Dresden/Kreuzkirche: „WEIHNACHTSORATORIUM“ VON J. S. BACH BEIM DRESDNER KREUZCHOR – 10.12. 2016
„Jauchzet, frohlocket“ klingt es wieder vielerorts in Deutschland in der Vorweihnachtszeit, wenn das „Weihnachtsoratorium“ von J. S. Bach aufgeführt wird, neuerdings in den verschiedensten Varianten der Auswahl und Zusammenstellung der 6 Kantaten als Kompromiss zwischen dem Publikum, das nur die ersten drei Kantaten vor Weihnachten hören möchte und den Ausführenden und Musikliebhabern, die auch die anderen Kantaten sehr schätzen. Beim Dresdner Kreuzchor hat man schon lange einen guten Kompromiss gefunden und behält sinnvollerweise die dreimalige Aufführung der ersten drei Kantaten vor Weihnachten (die immer ausverkauft ist) und die einmalige Aufführung der Kantaten IV -VI Anfang Januar bei. Das entspricht zwar auch nicht der ursprünglichen Zuordnung zu den kirchlichen Feiertagen um Weihnachten und Neujahr, macht aber Sinn.
Beim ersten Teil standen nun Kreuzkantor Roderich Kreile als „Grundpfeiler“ wieder der gut vorbereitete Dresdner Kreuzchor und die auch an dieser Stelle bewährte Dresdner Philharmonie zur Verfügung, die international hohes Ansehen genießt und erst kürzlich mit ihrem Gastspiel im Wiener Musikverein Aufsehen erregte und Fachwelt und Publikum begeisterte. Mit ihrem Engagement sorgen die Musiker auch in von Jahr zu Jahr wechselnder Besetzung immer wieder für das klangschöne und zuverlässige Fundament, das den faszinierenden Klangcharakter der Kreuzchor-Aufführungen maßgeblich mitbestimmt. Schöne Instrumental-Soli bei Einleitung und Begleitung der Arien bildeten auch bei dieser Aufführung wieder die kleinen, feinen „Extras“, wie der lieblich innige Klang der beiden Oboen d’amore (Bernd Schober, Guido Titze), des Englischhorns (Isabel Kern, Jens Prasse) sowie der Flöte (Karin Hofmann).
Ralf-Carsten Brömsel (1. Konzertmeister) stimmte in einer schönen Balance zwischen Wohlklang, Wärme und Sachlichkeit auf die Alt-Arie „Schließe mein Herze, dies selige Wunder …“ ein, bei der sich eine innige klangliche Übereinstimmung zwischen Altstimme, Solovioline und Orchester ergab.
Susanne Langner gestaltete mit ihrer schlanken, beweglichen, gut klingenden Stimme und ausgezeichneter Artikulation die seelenvollen Alt-Arien, einschließlich Rezitativen äußerst exakt, schnörkellos, mit innerer Anteilnahme und ausgezeichneter Artikulation. Auch schwierigere Passagen sang sie mühelos aus. Sie ließ keine Wünsche offen. Nur wenige, sehr gut gewählte und stilvoll ausgeführte Verzierungen verdeutlichten die innige Anteilteilnahme der menschlichen Seele, deren Empfindungen Bach der Altpartie anvertraut hat.
Wie oft mag Klaus Mertens, ein idealer Interpret der Basspartie in Oratorien und sehr gern gesehener Gast bei diesen Aufführungen, schon das „Weihnachtsoratorium“ gesungen haben. Bei ihm wird dennoch nichts zur Routine. Äußerst zuverlässig, mit immer präsenter Stimme und allen Tugenden eines guten Oratoriensängers ließ er auch bei dieser Aufführung keine Wünsche offen. Äußerst kultiviert, und edel, ohne dass bei ihm jemals eine Schwierigkeit zu erkennen gewesen wäre, sang und gestaltete er auch hier mit Gewissenhaftigkeit und Verantwortungsbewusstsein.
Susanne Langner und Klaus Mertens brachten die richtige Stilsicherheit mit. Bei der Evangelisten-Partie präsentierte Julian Prégardien eine neue, sehr individuelle Sicht. Er deklamierte weniger, sondern sang den Bericht von der Weihnachtsgeschichte, fügte oft ein kleines, wenig auffälliges, aber gestalterisch wirksames Ritardando ein und „verfeinerte“ die Tenor-Arie mit kleinen Verzierungen, die er sich bei seiner gut klingenden, flexiblen Stimme leisten kann. Die Evangelisten-Worte „Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen“, schmückte er laut- und tonmalerisch aus. Einschließlich Arie gestaltete er die Tenor-Partie neu, in gutem Maß lebhaft, vielleicht auch mit einem leichten Anflug ans Opernhaft-Theatralische, aber immer niveau- und effektvoll und in angemessenem Rahmen, eine neue Sicht und „Lesart“, die für entsprechende Belebung sorgte und durchaus eine akzeptable „Innovation“ darstellt. Schließlich lässt gerade die Evangelisten-Partie viele Interpretationsarten zu.
Alt, Tenor und Bass hatten die genau richtige Balance in Lautstärke und stimmlicher Kraft für die Akustik der Kreuzkirche. Die Sopranpartie ist zwar bei den ersten drei Kantaten weniger umfangsreich, bildet aber das i-Tüpfelchen, das nicht unterschätzt werden sollte. Während die (kleine, gutturale) Sopranstimme von Susanna Martin bei der „Engelsverkündigung“ noch (unbeabsichtigt) den Effekt wie eine Botschaft aus der Ferne erweckte (obwohl sie mit den anderen Solisten vor dem Orchester stand), war sie doch im Duett (Kantate III) mit dem Bass trotz freundlicher Rücksichtnahme von Klaus Mertens im großen Raum der Kreuzkirche leider nur mehr andeutungsweise zu hören.
Während Alt, Tenor und Bass mit ausgezeichneter Textverständlichkeit aufwarteten, war beim Kreuzchor, so klangschön die Chöre und besonders die Choräle auch gesungen wurden, kaum ein Wort zu erkennen, selbst wenn man den Text kennt und im Programmheft nachlesen konnte. Es ergab sich aber oft eine schöne klangliche Harmonie zwischen Chor und Orchester. Den Choral “Brich an, du schönes Morgenlicht“ ließ Kreile danach in dieser Harmonie langsam und lange ausklingen.
Was noch vor Jahren gerade hier verpönt war, in der Barockzeit aber üblich, wird jetzt nach jahrelanger absolut exakter, aber auch nüchternerer, sachlicher Interpretation, die der exakten Wiedergabe der Musik Bachs alles unterordnete, wieder aktuell und praktiziert, sehr rasche Tempi, Ritardando, individuelle Verzierungen usw. Auch an dieser Stelle wurde oft das Tempo der Chöre forciert, wie bei „Ehre sei Gott in der Höhe“ oder dem Eingangschor „Jauchzet frohlocket“, was zu leichten Temposchwankungen und Differenzen zwischen Chor und Orchester führen kann.
Im Gegensatz zu dem gegenwärtigen Trend, die „Sinfonia“ am Beginn der II. Kantate im Eiltempo zu „durchrasen“, hielten die Philharmoniker erfreulicherweise an der guten Tradition fest, sie wohltuend und beschaulich wie ein liebevolles Wiegenlied auszumusizieren, ohne etwa sentimental zu werden und überraschten auch immer wieder mit klangschönen rein instrumentalen Passagen zwischen Chören, Chorälen und Soli.
Die nüchterne Architektur des Innenraumes der Kreuzkirche, bei dem noch immer Wunden des Bombenangriffs von 1945 besonders am Altarplatz zu erkennen sind, an den sich aber das Publikum gewöhnt hat, wurde durch rot-gelbes Laser-Licht etwas festlicher gestaltet, um den festlich-feierlichen Charakter der Aufführung zu unterstreichen, wenn man davon absieht, dass die Farben rot und gelb in fernöstlichen Regionen mit Gift in Verbindung gebracht werden. Es war aber eine klangschöne, (weitgehend) ausgeglichene Aufführung mit vielen sehr schönen Einzelleistungen und einem sehr guten Gesamteindruck.
Ingrid Gerk