Dresden / Kreuzkirche, Frauenkirche: „MATTHÄUSPASSION“ UND „JOHANNESPASSION“ VON J. S. BACH – 6./7.4.2023
In der Osterzeit gibt es in und um Dresden zahlreiche Aufführungen von Oratorien und Passionsmusiken, vozugsweise der beiden überlieferten großen Passionen von Johann Sebastian Bach (möglicherweise hat Bach noch mehr geschrieben, immerhin sind von einer „Markuspassion“ noch die Chöre erhalten). Je nach räumlichen und personellen Möglichkeiten werden oft auch Werke anderer Komponisten aus Vergangenheit und Gegenwart aufgeführt, aber Bachs Passionen erfreuen sich der größten Beliebtheit. Besucht wurden zwei Aufführungen in den beiden evangelischen Hauptkirchen der Stadt.
Die „Matthäuspassion“ von J. S. Bach gab es in der Kreuzkirche traditionsgemäß am Gründonnerstag und Karfreitag. Sie ist zu einer so festen Tradition geworden, dass sie keiner der Besucher missen möchte, auch die jüngeren nicht. Unter der Leitung des neuen Kreuzkantors Martin Lehmann, der noch nicht einmal ein Jahr im Amt ist, den Dresdner Kreuzchor aber in kürzester Zeit auf ein Niveau gebracht hat, das seinesgleichen sucht, folgte nun nach den erfolgreichen Aufführungen von „Brahms-Requiem“, Weihnachtsoratorium““ und Mozart-Requiem“ die erste „Matthäuspassion“.
Der Chor bestach sofort durch Vitalität, hohe Transparenz, Schönheit und Homogenität des Klanges, perfekte Einsätze, sehr wirkungsvolle Phrasierung und die genau richtige Tempowahl zwischen dramatischen Chören und besinnlichen Chorälen. Mit seiner großartigen Ausdrucksstärke und hohem gestalterischem Niveau wurde er zum tragenden Element und wesentlichsten Teil der Aufführung, großartig zum Beispiel das einhellig und kraftvoll gesungene, vernichtende und erschütternden „Barrabam !“.
Die instrumentale Ergänzung bildete wie jedes Jahr (mit nur sehr wenigen Ausnahmen) die Dresdner Philharmonie mit ihrer kontinuierlichen Zuverlässigkeit in allen Phasen, ausgewogener Klangschönheit und Gespür für Bachs Musik, sehr guten, einfühlsamen Instrumentalsolisten (Flöte, Oboe, Violine, Laute) und einer exzellenten Continuogruppe zur Begleitung der Arien. Die Musiker leiteten die Arien stimmungsvoll ein, setzten die Gesangsstimme oft instrumental fort und ließen berührende Momente berührend ausklingen, wie die Alt-Arie „So ist mein Jesus nun gefangen“, oder die vom Solo der 1. Violine begleitete Arie „Erbarme dich“), die zu einem kongenialen Miteinander von menschlicher Stimme und Instrument(en) wurde.
Obwohl auch bei der Philharmonie – wie bei jedem Orchester – kontinuierlich der unvermeidbare Besetzungswechsel stattfindet, schon durch die gegebene Verjüngung sowie Verpflichtungen für Eigenveranstaltungen am gleichen Tag, behält das Orchester stets seine Qualität bei und neben seiner eigentlichen Aufgabe, den Sinfoniekonzerten, auch den Sinn für die Welt des Oratoriums. Dass es trotz Lehmanns präziser Leitung gelegentlich noch zu kleinen Verschiebungen bei den Einsätzen kam, die die Musiker sehr schnell wieder ins Lot brachten, dürfte aus der neuen, etwas anderen Tempowahl des Chores resultieren und in Zukunft kein Problem mehr sein.
Das Solisten-Ensemble war unterschiedlich besetzt, aber bis auf eine Ausnahme kompetent. Für die erkrankte Hanna Zumsande war die amerikanische, in Deutschland lebende, Robin Johannsen eingesprungen, eine viel gefragte Barock- und Mozartsängerin, die die Sopran-Arien sehr deutlich, mit makelloser Technik und angenehmem Timbre sang.
Marie Henriette Reinhold steigerte sich allmählich immer mehr in die Altpartie hinein und gestaltete sie mit ihrer warmen, berührenden Stimme, müheloser Technik, sehr langem Atem („Buß’ und Reu’ “) und zusätzlichen Verzierungen, klangschön, ausdrucksvoll, empfindsam (ohne jede Sentimentalität) und mit innerer Anteilnahme.
Mit Noblesse und exakt bis ins letzte Detail gestaltete Jochen Kupfer die Partie des Christus mit gut klingender Stimme edler Diktion und ausgewogener Balance zwischen überirdischer Berufung („Mein Reich ist nicht von dieser Welt“) und menschlichem Empfinden, auch ein wenig opernhaft, aber das war und ist in der Barockmusik üblich und tut keinen Abbruch.
Daniel Ochoa engagierte sich sehr für eine gute Gestaltung der Basspartie (Pilatus), insbesondere der Arie „Komm süßes Kreuz“.
Die Rolle des Evangelisten ist bei Bach eine Schlüsselfigur und nicht wegzudenken. Aus heutiger Sicht mag sie mancher als eher veraltet und überflüssig empfinden, weshalb manche Sänger die Partie sehr zu straffen versuchen. Wenn man jedoch an die unvergessenen Interpretationen eines Ernst Häfliger oder Peter Schreier und gegenwärtig Patrick Grahl denkt, kann auch diese Partie sehr eindrucksvoll gestaltet werden. Abgesehen davon, dass sie die einzelnen Gesangs-, Instrumental- und Chor-Nummern verbindet, für den Fortgang der Handlung sorgt und sozusagen das Grundgerüst für das gesamte Werk bildet, hat sie Bach auch mit einigen musikalischen Finessen ausgestattet.
Wolfram Lattke sang sie mit schwächelnder Tenorstimme, sehr hellem Timbre, (sehr) „dünner“ (Falsett-)Höhe und für den großen, vollbesetzten Kirchenraum ohnehin viel zu leise und verhalten. Darüber konnten auch einige gestalterische „Ausbrüche“ („… schriee Jesus laut …“), die gerade einmal auf Normallautstärke kamen, nicht hinwegtäuschen, und auch die Tenor-Arie konnte neben den gut besetzten anderen Partien nicht überzeugen. Er beschränkte sich ausschließlich auf die rein gesangstechnische Seite – ohne Ausstrahlung. Selbst wenn man die Passion genau kennt, war seine Partie mitunter nur andeutungsweise wahrzunehmen.
Kleine Nebenrollen hatte Lehmann mit Kruzianern besetzt, was auch zur Förderung der jungen Sänger beiträgt. Manche sangen schon sehr sicher (Judas), andere mit zarter Stimme (Petrus, Pontifex I, II).
Die gesamte Aufführung bot (bis auf die wenigen Ausnahmen) sehr viel Berührendes, Gutes und Schönes. Der Kreuzchor ist jetzt in den allerbesten Händen. Lehmann leitete die Aufführung äußerst gewissenhaft bis ins Detail und mit dem richtigen Gespür für Bachs große Passion. Die Kirchenmusik ist ihm nicht nur Aufgabe, sondern auch Anliegen. Unter seiner wohldurchdachten Leitung, die aus innerer Anteilnahme resultiert, erreichte die Aufführung die Besucher, die es am Karfreitag in der vollbesetzten Kirche nach dem Verklingen des letzten Tones mit langem Schweigen dankten.
In der Frauenkirche wurde Bachs „Johannespassion“ aufgeführt. Nicht nur durch die unterschiedlichen räumlichen Gegebenheiten unterschieden sich die beiden Aufführungen sehr voneinander, sondern vor allem auch durch die Verschiedenartigkeit dieser beiden Passionen. Im Gegensatz zur umfangreichen „Matthäuspassion“, die in epischer Breite die Empfindungen des Betrachters und der gläubigen Seele betont, schildert die „Johannespassion“ insbesondere die Gefangennahme, Gerichtsverhandlung und Verurteilung mit höchster Dramatik in wesentlich kürzerer Zeit. Welcher der beiden Passionen der Vorzug zu geben ist, kann jeder für sich entscheiden.
Robert Schumann konstatierte: „Die Johannespassion ist mitreißend, packend, bewegend – ein Meisterwerk! … ist sie nicht um Vieles kühner, gewaltiger, poetischer, als die nach dem Evangelisten Matthäus? Wie gedrängt, wie durchaus genial, namentlich in den Chören …“.und bearbeitete sie für eine eigene Aufführung, deren Fassung unter anderem einmal unter der Leitung von Peter Schreier im Rahmen der von ihm ins Leben gerufenen „Schumanniade“ auf den Spuren Robert Schumanns in Kreischa bei Dresden zu hören war. In der Frauenkirche erklang sie in er Originalfassung von Bach, die jetzt am weitesten verbreitet ist.
Unter der Leitung von Frauenkirchenkantor Matthias Grünert sang der relativ kleine, sehr leistungsfähige und über sehr gute und sichere Stimmen verfügende, Kammerchor der Frauenkirche mit geschickter Differenzierung und guter Diktion und erreichte eine erstaunliche Kraft bei den turbulenten Volkschören („Turbae“), insbesondere bei dem vom Volk gesprochenen Todesurteil (“Weg, weg mit dem, kreuzige ihn!“) in einem massiven, aufgeregten Chor, der bei der relativ kleinen Anzahl an Sängerinnen und Sängern mit erstaunlicher Wucht erschien. Im Gegensatz dazu sang der Chor die Choräle, sehr aus- und eindrucksvoll, mitunter sehr vital und gerade noch an der Grenze eines zweckmäßigen Tempos (Dein Will’ gescheh“.). Die wenigen, aber sehr guten Männerstimmen ließen bei „wir haben ein Gesetz“ aufhorchen.
Das kleine, aber ausreichende, homogen und gut klingende Orchester ensembe frauenkirche dresden, vorwiegend aus Mitgliedern der Sächsischen Staatskapelle und Dresdner Philharmonie musizierte stilgerecht und einfühlsam.
Tobias Hunger gestaltete die Evangelistenpartie sehr klar in Wort und Ton, schilderte leicht dramatisch und in Art der Barockzeit lebhaft und bildhaft die Passionsgeschichte und sang die Tenor-Arie sehr bewegt, mitunter sogar etwas überschwänglich.
Catalina Bertucci bewältigte die Sopran-Arie mit ihren chromatischen Läufen souverän und mit ansprechender, sehr angenehmer Stimme.
Britta Schwarz, die an dieser Stelle schon oft in Oratorien großartige Eindrücke hinterließ, sang mit ihrer warmen, samtenen Stimme die Altpartie und besonders die Arie „Es ist vollbracht“ mit inniger Beseeltheit und gestalterischem Kontrast bei dem in Schnelligkeit einsetzenden „Der Held aus Juda siegt mit Macht“.
Andreas Scheibner, der auch die kleineren Rollen gut zu charakterisieren verstand und zu Leben erweckte, ließ den Pilatus sehr plastisch erstehen, aber das, technisch perfekt, sehr transparent und mit wohlklingender Stimme und ausgezeichneter Textverständlichkeit gesungene Bass-Arioso “Betrachte, mein Seel’ mit ängstlichem Vergnügen“ mit sanfter Begleitung der Instrumente und den Einwürfen des Chores wurde zu einer bewegenden „Szene“ und zum Höhepunkt der Aufführung.
Auch nach dieser Aufführung bedankten sich die Zuhörer mit langem Schweigen, bei dem sie sich von den Plätzen erhoben.
Ingrid Gerk