Dresden / Kreuzkirche, Frauenkirche, Kulturpalast: KONZERTE ZUM GEDENKEN AN DIE ZERSTÖRUNG DRESDENS VOR 75 JAHREN – 13.2.2020
Nachdem Rudolf Kempe 1951 mit der damaligen Staatskapelle Dresden zum ersten Mal in einem Gedenkkonzert der Zerstörung der Stadt im 2. Weltkrieg mit dem „Verdi-Requiem“ gedachte, finden alljährlich bei der Sächsischen Staatskapelle, Dresdner Philharmonie und dem Dresdner Kreuzchor Gedenkkonzerte statt. Anfang der 1990er Jahre schloss sich (einmalig) auch die Staatsoperette mit einer Aufführung des „Requiems“ von Andrew Loyd Webber an, und seit dem Wiederaufbau der Frauenkirche, die besonders lange in Trümmern lag, wird auch dort diese Tradition gepflegt. Am 13. Februar 1945 wurde die Innenstadt und besonders die historische Altstadt in einem Flächenbombardement völlig ausgelöscht. Unwiederbringliche Kunstschätze gingen für immer verloren. Zwischen 25 000 und 250 000 Menschen (über die Angaben wird gestritten) starben qualvoll, darunter auch die Menschen von zwei Flüchtlingstrecks. Musikerpersönlichkeiten wie Brigitte Fassbaender, Péter Eötvös, Rudolf Mauersberger und viele andere haben es hautnah miterlebt und viele auch nicht überlebt.
Zum 50. Jahrestag dieser Gedenkkonzerte gab es Diskussionen, ob man die Tradition weiter führen sollte, aber die Orchester, der Dresdner Kreuzchor und die Dresdner Bevölkerung entschieden sich dafür. Inzwischen wurden auch in einigen anderen Städten, wie z. B. in Magdeburg, ähnliche Traditionen ins Leben gerufen. Jetzt wird in Dresden (aus terminlichen Gründen), der Termin mitunter einige Tage vorverlegt, was manche Besucher stört, der Sache aber kaum Abbruch tut. Statt ausgesprochener Totenmessen finden jetzt auch andere Großwerke Aufnahme in die Programme. Die Tradition des anschließenden stillen Gedenkens am Ende (ohne Applaus) ist aber bis jetzt (weitgehend) geblieben. In diesem Jahr fand das erste dieser Gedenkkonzerte beim Dresdner Kreuzchor statt:
Dresden / Kreuzkirche: “PAULUS“ VON FELIX MENDELSSOHN-BARTHOLDY – 8.2.
Zu Beginn erklingt alljährlich bei diesen Kreuzchor-Konzerten traditionsgemäß die Motette „Wie liegt die Stadt so wüst“ für vier- bis siebenstimmigen Chor a capella, die im Gedächtnis und im Herzen der Dresdner fest verwurzelt ist, geschrieben nach dem unmittelbaren Eindruck der Bombennacht von dem langjährigen (1930 – 1971) Kreuzkantor Rudolf Mauersberger, der den Kreuzchor seinerzeit zur Weltgeltung führte. Wie Johannes Brahms für sein „Deutsches Requiem“ hat auch Mauersberger dafür Bibeltexte nach eigenem Empfinden zusammengestellt. Von Jahr zu Jahr wirkt diese Motette ergreifender, haben sich Ausführende und Zuhörer noch intensiver damit auseinandergesetzt. Sie trifft unmittelbar den Nerv des Geschehens. Der Kreuzchor sang ausdrucksstark, mit schöner Klarheit. Anschließend ertönte das Glockengeläut der Kreuzkirche, eines der schönsten Deutschlands, zu mahnender Besinnung, ein Brauch, den Mauersberger aus seiner erzgebirgischen Heimat mitbrachte.
Als Hauptwerk wurde Felix Mendelssohn-Bartholdys weniger bekanntes Oratorium „Paulus“ aufgeführt, das er 10 Jahre vor dem berühmteren „Elias“ komponierte, etwas „spröder“ als dieser, aber nicht weniger eindrucksvoll, ein Werk, das sowohl die Ausführenden, als auch die Zuhörenden in seinen Bann zieht. Solisten und Chor wurden von der Musik und nicht zuletzt von dem relativ kleinen, aber erlesenen Orchester aus Mitgliedern der Sächsischen Staatskapelle inspiriert, so dass die Aufführung nach der Pause noch mehr an Durchschlagskraft gewann. Das Orchester bildete mit sehr schönen Streichern und Blechbläsern das sichere Fundament der Aufführung und sorgte mit ausdrucksvollen solistischen Instrumental-Passagen von Fagott und Violoncello für wunderbare Momente und farbenreiche Illustration der Geschichte vor dem geistigen Auge. Die begleitenden Orgelklänge von Kreuzorganist Holger Gehring verbanden sich nahtlos mit dem Orchesterklang.
Der Dresdner Kreuzchor beeindruckte mit seinem Klangbild vor allem durch die Dominanz der zahlreichen jungen, zarten, klangvollen Sopranstimmen, deren überproportionale Anzahl dem Chorklang Schönheit und Frische verlieh. Lediglich wenn Bass I und II als „Männerchor“ („Sei uns gnädig“), auftraten, konnten die relativ wenigen bzw. wenig tragenden Stimmen trotz Engagement und gutem Willen die Erwartungen nicht ganz erfüllen. Hier wäre eine Verstärkung (z. B. aus einem Erwachsenenchor) wünschenswert gewesen. Als gesamter Chor erreichte der Kreuzchor jedoch eine erstaunliche klangliche Homogenität und ein geschlossenes Klangbild, das besonders den Schlusschören der beiden Teile Kraft und Würde verlieh.
Das Solisten-Quartett, das bei diesem Werk im Vordergrund steht, war gut besetzt mit Heidi Elisabeth Meier, die mit sehr sicherer, klangvoller, tragfähiger Sopranstimme und guter Gestaltung (wenn auch kaum textverständlich) die klangvollen Akzente setzte, Rebecca Martin mit ihrer warmen, beseelten Altstimme, Tenor Bernhard Berchtold, der ähnlich einer Evangelistenpartie in Bachs Oratorien, die Mendelssohn als Vorbild dienten, mit sehr guter Textverständlichkeit die Geschichte erzählt und die Gestalt des Stephanus plastisch erstehen ließ sowie auch lyrische Qualitäten aufzuweisen hatte, sowie Thomas E. Bauer, der ihm nicht nachstand und mit kraftvollem Bass der Gestalt des Paulus Gewicht verlieh. Beide Herren harmonierten auch gut im Duett.
Von der Kreuzkirche sind es nur einige hundert Meter bis zur Frauenkirche. Hier entschied sich Frauenkirchenkantor Matthias Grünert für die „Matthäuspassion“ von J. S. Bach in ungekürzter Fassung, obwohl dieses Monumentalwerk alljährlich zu Ostern in Kreuz- und Frauenkirche aufgeführt wird, da mit dem, an diesem Abend gleichzeitig entstehenden CD-Livemitschnitt des Labels Rondeau die Einspielung aller vier Bach-Oratorien mit dem Kammerchor der Frauenkirche Dresden und dem ensemble frauenkirche dresden komplettiert werden konnte:
Dresden / Frauenkirche: “MATTHÄUSPASSION“ VON J. S. BACH – 8.2.
Ähnlich der historisch orientierten Aufführungspraxis von Nikolaus Harnoncourt waren beide Chöre getrennt aufgestellt und alle vier Solistenpartien doppelt besetzt und den beiden aus dem Kammerchor der Frauenkirche, einem Laienchor, der mit beachtlichen Leistungen aufwartet und seit seiner Gründung im Jahr 2005 zu einer festen Größe im Musikleben Dresdens geworden ist, gebildeten Chören zugeordnet, so dass die Solisten einerseits den Chorklang verstärken konnten und sich andererseits der Sologesang aus dem Chorklang erhob, was der Vorstellung Bachs entsprochen haben mag. Das aus Mitgliedern der Sächsischen Staatskapelle Dresden bestehende ensemble Frauenkirche beeindruckte auch hier wieder durch seine Zuverlässigkeit und Stilsicherheit, Klangsinn und gestalterisches Können.
Renommierte Solisten ließen Bachs musikalisches Meisterwerk gemeinsam mit Chor und Orchester unter Grünerts Leitung zu einem beeindruckenden Erlebnis werden. Abgesehen von übermäßig gestochen scharfen Einwürfen des Chores im ersten Teil, strahlte die Aufführung „bewegte Ruhe“ aus in dem, in Dresden aufgrund hoher Maßstäbe aus den vergangenen Jahrzehnten immer wieder erwarteten, ausgewogenen Verhältnis zwischen bewegten, mitunter aufgeregten Volks-Chören (turbae), virtuosen Arien, die bei Bach nie Selbstzweck sind, sondern dramatische Situationen, Bestürzung der Seele u. a. ausdrücken, und beruhigenden, beschaulichen Chorälen, die als erlösende Kontraste die dramatischen Situationen wieder ins seelische Gleichgewicht rücken.
Den „Löwenanteil“ der Sopran-Arien (Sopran I) hatte die chilenisch-italienische Sopranistin Catalina Bertucci zu bewältigen, die u. a. auch an der Wiener Volksoper („Die Zauberflöte“, „Gianni Schicchi“), der Semperoper und der Staatsoperette Dresden gesungen hat. Sie tat es mit ihrer strahlenden, warmen Stimme und gestaltete ihre Partie entsprechend Inhalt und Aussage. Hanna Zumsande (Sopran II) sang ihre Arie sicher und stilgerecht, aber mit etwas schriller Höhe. Hingegen gestaltete Britta Schwarz (Alt I) mit ihrer sehr warmen, samtenen Altstimme und beseeltem Ausdruck den Hauptteil der Alt-Arien, die bei Bach die Empfindungen der gläubigen Seele ausdrücken, während Geneviève Tschumi, Alt II, im anderen Chor nur eine Arie zu singen hatte, die sie sicher und gut gestaltete.
Wolfram Lattke überraschte mit profunder Gestaltung der Partie von Tenor I, während sich Tobias Hunger (Tenor II), ebenfalls stilistisch sicher, aber etwas zurückhaltender einbrachte. Thomas Laske (Bass I) mit sehr guter Gestaltung und Sebastian Noack (Bass II) teilten sich die umfangreiche Basspartie. Ein sehr vitaler, ausdrucksstarker Evangelist war Tilmann Lichdi, zuweilen auch hart an der Grenze der allzu plastischen Übertreibung, aber überwiegend mit sehr ansprechender Stimme und anschaulich den Inhalt vermittelnd. Die Vox Christi sang Philipp Meierhöfer, ebenfalls sehr gut gestaltet und würdevoll, lediglich sein ungewohnter Dialekt wollte (zumindest in Dresden) nicht so recht zu dieser erhabenen Gestalt passen.
Das ebenfalls alljährlich in der Kreuzkirche mit dem Dresdner Kreuzchor zu erlebende „Deutsche Reqiem“ von Johannes Brahms war jetzt aus gegebenem Anlass im Kulturpalast mit einem Erwachsenenchor zu hören, wobei naturgemäß die sinfonische Seite des Werkes mehr betont wurde – ein interessanter Vergleich:
Dresden / Kulturpalast: “EIN DEUTSCHES REQUIEM“ VON JOHANNES BRAHMS – 13.2.
„Selig sind, die da leid tragen“, was könnte besser zu diesem Anlass passen, als das schlichte, aus sehr persönlicher Sicht von Brahms verfasste „Deutsche Requiem“ das immer wieder unmittelbar anspricht und bewegt. Am Pult der Dresdner Philharmonie stand ihr neuer alter (Wieder-)Chefdirigent und künstlerische Leiter Marek Janowski, der schon einmal (2001- 2003) Chefdirigent dieses Orchesters war und, weil die Philharmoniker ewig keinen eigenen Konzertsaal erhalten sollten, zurücktrat. Nun, da der neue Konzertsaal endlich da ist und in seiner Qualität alle Erwartungen übertrifft, kehrte er mit der Saison 2019/20 wieder zurück. Schon wegen des größeren Rahmens mit größerem Orchester und größerem Chor trat die sinfonische Seite stärker in den Vordergrund. Janowski, der große Operndirigent, der an allen großen Opernhäusern von Weltrang die Aufführungen leitete, konzentriert sich seit den späten 1990er Jahren mit seinen ästhetischen Ansprüchen ganz auf den Konzertbetrieb und leistet da Außerordentliches. Man kann förmlich an seinen genialen Gesten ablesen, wie die Musik entsteht.
Den Musikern der Dresdner Philharmonie, die bei den Aufführungen in der Kreuzkirche regelmäßig mitwirken, ist dieses Werk „in Fleisch und Blut“ übergegangen. Sie bildeten auch hier die äußerst zuverlässige, klangschöne Grundlage, bei der der urmusikalische Paukist mit sehr viel Einfühlungsvermögen und musikalischem Gespür in kongenialer Übereinstimmung mit dem Gesamtklang des Orchesters in einem Spektrum von dezent bis aufwühlend, aber immer mit dem Orchester, in idealer Weise die genau richtigen Akzente setzte (was bei anderen Orchestern leider immer seltener wird). Die Pauke ist nun einmal das Zünglein an der Waage und entscheidet wesentlich über die Klangwirkung des Orchesters mit.
Die beiden innigen Solopartien hatten Christina Landshammer, Sopran, und Markus Eich, Bariton, übernommen, die sich beide neben der Oper auch dem Konzertgesang widmen. Mit schlanker Stimme und entsprechender Diktion und Artikulation konzentrierten sie sich auf eine gute gesangliche Bewältigung ihrer Partie, weniger auf die innig-gestalterische Seite, wie man sie bisher in Dresden kannte.
Der MDR-Rundfunkchor, einer der größten und traditionsreichsten, weltweit gefragten Chöre des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, dem bereits (fast) alle berühmten Dirigenten und Orchester ihre Referenz erwiesen, verfügt über die nötige Professionalität, Einfühlungsvermögen und „Durchschlagskraft“, so dass seine Einsätze „unter die Haut“ gingen. Er beherrscht die gesamte Spannbreite vom feinsten Pianissimo („Wie lieblich sind deine Wohnungen …“) bis zum gewaltigen Chorklang („Denn alles Fleisch, es ist wie Gras …“ und „Der Tod ist verschlungen in den Sieg“). Lediglich bei den Frauenstimmen fielen einige ungewohnte Timbres auf. Bevor das abschließende, feierlich getragene „Selig sind die Toten“ angestimmt wurde, ließ Janowki einige Zeit innehalten.
Unter seiner umsichtigen, inspirierenden Leitung hinterließ diese mitreißende Aufführung einen gewaltigen und nachhaltigen Eindruck.
Wie eine Klammer um diese drei Aufführungen erschien das Programm der Sächsischen Staatskapelle Dresden in ihrem 7. Symphoniekonzert und gleichzeitigem Gedenkkonzert mit zwei Werken aus der Zeit vor Bach und nach Mendelssohn:
Dresden / Semperoper: “MUSIC FOR THE FUNERAL OF QUEEN MARY“ VON HENRY PURCELL UND DIE „SYMPHONY NR. 10“ VON GUSTAV MAHLER“ – 13.2.
Unter der Leitung von Daniel Harding führte die Sächsische Staatskapelle zwei selten zu hörende Werke auf: die 12-15minütige „Music fort the Funeral of queen Mary“ von Henry Purcell und Gustrav Mahlers unvollendete Symphonie Nr. 10“ in der Aufführungsversion von Deyck Cooke, beides sehr interessante und selten zu hörende Werke, aber leider fast zur gleichen Zeit wie das Konzert der Dresdner Philharmonie, wobei jedes Konzert ein volles Haus verzeichnen konnte.
Ingrid Gerk