Dresden / Kreuzkirche: ENDLICH WIEDER EINE „MATTHÄUSPASSION VON J. S. BACH MIT DEM DRESDNER KREUZCHOR – 15.4.2022
Zwei Jahre gab es keine „Matthäuspassion“ in der Dresdner Kreuzkirche. Die Untersagung größerer Veranstaltungen infolge Corona hatte eine jahrzehntelange Tradition unterbrochen. Jetzt können solche Aufführungen endlich wieder stattfinden. Der Besucherzustrom machte deutlich, wie wichtig den Menschen solche Erlebnisse sind.
Man war gespannt, was von den bisherigen Glanzleistungen geblieben, was verändert oder anders sein würde, aber man konnte zufrieden sein. Die bewährten Solisten, Chorsänger und Orchestermusiker haben ihren hohen Anspruch bewahrt.
Die Musiker der Dresdner Philharmonie bildeten bei dieser Aufführung der „Matthäuspassion“ von Johann Sebastian Bach mit dem Dresdner Kreuzchor trotz von Jahr zu Jahr wechselnder Besetzungen mit ihrem warmen, „runden“ Klang, Frische und optimalem Tempo wieder das äußerst zuverlässige, stilsichere und klangschöne Fundament zwischen Spannung und Besinnlichkeit und bereicherten mit wunderbar klangvollen solistischen Passagen von Soloviolinen, Flöte, Barockflöte, Oboe d’amore und Englischhorn die Einleitungen und Begleitungen der großen Arien und Duette. Die wirklich kontinuierlich und klangschön musizierende Continuo-Gruppe machte ihrem Namen alle Ehre, trug Sängerinnen und Sänger und auch den Chor und damit maßgeblich zu einem flüssigen, kontinuierlichen Verlauf bei und inspirierte Solisten und Chor beim gemeinsamen Gestalten.
Die größten Probleme bei der Bewältigung der Corona-Auswirkungen dürfte der Kreuzchor gehabt haben, aber er war gut vorbereitet und bewältigte seine Aufgaben allgemein gut. Kleine Temposchwankungen und Abweichungen vom Orchesterklang waren da verständlich. Mitunter bedurfte es – meist zu Beginn eines Chores oder Chorales – einer kleinen Aufmunterung, um dann mit beschaulichen Chorpassagen oder den kontrastierenden lebhaften Turbae-Chören wie „Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden…“, zunächst ruhig begonnen, dann zusammen mit dem Orchester zu beeindrucken. Jeder Choral wurde mit dem, ihm eigenen, Charakter gesungen. Eindrucksvoll gelangen auch die Kontraste zwischen den turbulenten Volkschören und den Chorälen, wie bei dem unmittelbar auf den Chor des aufgebrachten Volkes „Weissage uns …“ folgenden, besänftigenden Choral „Wer hat dich so geschlagen …“.
Das Solisten-Ensemble war unterschiedlich, aber den Rollen entsprechend, besetzt.
Für die Sopranistin Heidi Elisabeth Meier war die Barock- und „Alte-Musik“-Sängerin Ulrike Hofbauer kurzfristig eingesprungen. Sie konnte nicht auf die Erfahrungen mit den besonderen akustischen Bedingungen der Kreuzkirche bauen und sich der Gestaltung widmen. Mit ihrer sehr schlanken Stimme, die zwangsläufig in der Höhe mitunter etwas schrill klang, widmete sie sich zunächst vor allem der gesangstechnischen Realisierung und schien sich zunehmend den Raumverhältnissen anzupassen, so dass die von ihr gesungenen Arien ihre Wirkung nicht verfehlten.
Auf sehr hohem Niveau, mit wunderbar warmer, klangvoller Stimme und einer genau richtigen Tongebung und Diktion gestaltete Anne-Kathrin Laabs ausdrucksstark die Alt-Arien, die die Wiederspiegelung der Ereignisse in der gläubigen Seele darstellen. Ihre Arien-Gestaltung wurde zum Höhepunkt der Aufführung. Durch gute Gesangstechnik vereinigten sich die Stimmen von Sopran und Alt trotz unterschiedlicher Timbres der beiden Sängerinnen zu schöner Gemeinsamkeit und harmonierten mit Chor und Instrumenten.
Mit fundierter Bassstimme und Intensität verkörperte Henryk Böhm die Christusgestalt sehr ausgeglichen zwischen Würde und irdischem Leiden, mit jedem Wort, jedem Ton das Geschehen prägend.
Daniel Ochoa, der zunächst die kleineren Rollen (Petrus, Pilatus usw.), unterschiedlich differenziert, in das Geschehen einbrachte, bewältigte auch die Tenor-Arie zuverlässig.
Ungewohnt und sehr zurückhaltend, mit sehr hellem, leichtem Tenor, in der Höhe oft sehr „dünn“ und viel zu leise erschien zunächst Bernhard Berchtold als Evangelist, bei dem man an dieser Stelle immer noch an Peter Schreiers ausdrucksstarke Gestaltung denkt und in neuerer Zeit an Patrick Grahl. Berchtold steigerte sich jedoch zunehmend in seine Partie und konnte schließlich doch noch mit richtiger Diktion, guter Textverständlichkeit und etwas kräftiger wirkender Stimme überzeugen, wenn er auch mitunter die Worte dehnte, einiges Pathos und auch theatralische Momente in seine Gestaltung einflocht und nicht selten manieriert wirkte.
Dass die Stimmen der zwei Zeugen (Testis I und II) zwei jungen Kruzianern anvertraut wurden, war gut gemeint, aber die noch schwachen Sopranstimmen konnten doch nicht wirklich durchdringen. Bei den Stimmen der beiden älteren Kruzianer (Pontifex I und II) war das schon besser.
Für Kreuzkantor Roderich Kreile, der sich zum Ende des Schuljahres in den Ruhestand verabschiedet, war es die letzte Matthäuspassion. Hoffen wir, dass sein Nachfolger diese besondere Tradition im Sinne einer Kirchenmusik-Praxis auf höchstem Niveau weiterführt.
Ingrid Gerk