Dresden / Konzertplatz Weißer Hirsch, Elbufer: SÄCHSISCHE STAATSKAPELLE „OHNE FRACK AUF TOUR“ UND DRESDNER PHILHARMONIE OPEN AIR AM ELBUFER – 8.7. und 10.7.2021
Foto: Markenfotografie
Die warmen Sommerabende und „italischen Nächte“, wie sie Heinrich von Kleist nannte, sind sprichwörtlich für Dresden und entstehen aufgrund seiner geografischen Lage. Sie regen immer wieder zur Erschließung und Nutzung alter und neuer Open-Air-Spielstätten an.
Seit 216 begaben sich Kammermusikensembles der Sächsischen Staatskapelle Dresden einmal im Jahr „Ohne Frack auf Tour“ in die „Kneipen“ der Dresdner Neustadt, um „die Kunst dem Volke näher zu bringen“, was offenbar einen etwas anderen Effekt erreichte als erwartet. Anders als zu Beginn dieser Aktion schienen die Stammgäste an diesem Tag ihrer Lieblingskneipe fern zu bleiben, aber die Freunde klassischer, E- oder sonst irgendwie bezeichneter Musik fanden sich immer zahlreicher ein, zumal sich dabei auch oft persönliche Gespräche mit den Musikern ergeben, sozusagen „Staatskapelle zum Anfassen“ und vor allem anhören. Die Menschen bevölkerten die Lokale, ihre Zahl stieg von Jahr zu Jahr, so dass der Platz in den oft kleinen Gaststätten einfach nicht mehr ausreichte und die davorliegenden Straßen zum Zuschauer- bzw. Zuhörerraum wurden.
Als die Gaststätten im vergangenen Jahr Lock-down-bedingt schließen mussten, folgte zunächst eine Absage. Um die Musikfreunde aber nicht zu enttäuschen, wurde die „Aktion“ schließlich auf den Konzertplatz Weißer Hirsch, im Dresdner Stadtteil gleichen Namens (bzw. umgekehrt) am südlichen Ende der Dresdner Heide, einem größeren Waldgebiet am Rande der Stadt, verlegt, wo sie in diesem Jahr aus gleichem Grund zum zweiten Mal stattfand.
Dieser Konzertplatz mit schöner alter Konzertmuschel, wie sie in früheren Zeiten zu einem gepflegten Kurort gehörte, ist ein Relikt aus alten, glanzvollen Zeiten eines einst in aller Welt geschätzten Sanatoriums, wo Hochadel, High Society und berühmte Persönlichkeiten wie Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Thomas Mann, Paul Lincke, Jean Gilbert, Zarah Leander, Gustav Gründgens, Heinrich George, Heinz Rühmann, Johannes Heesters und viele andere mehr (die Liste ist lang) kurten. Ein Drittel der illustren Gäste kam aus dem Ausland, von Österreich bis Sumatra. Das Sanatorium verfiel und wird jetzt teilweise rekonstruiert. Der Konzertplatz aber blieb erhalten und dient jetzt volkstümlichen Veranstaltungen (mit Biergarten). An diesem Tag aber diente er der anspruchsvolleren Muße.
Das Publikum wurde mit staatskapelleneigenem Klang und Qualität, auch von Musikern der ersten Pulte, verwöhnt, selbst bei den kleinsten, unterhaltsamen Stücken von Bach, Händel und Mozart über Ravel und Debussy bis Johann Strauß und Isaac Albéniz und vielen anderen, auch ziemlich unbekannten Komponisten in einem Querschnitt durch alle möglichen Genres und Epochen von Duo über Streich- und Bläser-Quartett und -quintett bis Kammerensemble und von Violine(n), Viola, Cello(s) und Kontrabass über Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott und Horn bis Harfe(n).
Für jeden Geschmack war etwas dabei. Das Vergnügen war auf beiden Seiten und machte offenbar auch den Musikern Spaß. Die Dresdner lieben „Ihre“ Staatskapelle, kennen „ihre“ Musiker und „folgen ihnen nach“, ganz gleich, wo sie auftreten. Was macht es da, wenn ein paar Regenwolken aufziehen.
Die Dresdner Philharmonie hat ebenfalls ihr treues Publikum und veranstaltete auf der Bühne am Elbufer mit dem berühmten „Canaletto“-Blick auf die Silhouette der Altstadt mit Semperoper, Schloss, Kathedrale (ehemalige Hofkirche), Frauenkirche usw., wo sonst Filme gezeigt werden (und in der ersten Hälft des 20. Jahrhunderts – ohne Bühne – Segelflugvorführungen zu sehen waren), ein „Sommerkonzert“ mit „Peer Gynt“ von Edward Grieg in einer Fassung mit Sprecher, Sängerin und den schönsten Teilen aus der Schauspielmusik zu Henrik Ibsens gleichnamigem Dramatischen Gedicht.
Zur „Einstimmung“ sang der Dresdner Bürgerchor mit viel Enthusiasmus, angenehmen Stimmen und trotz der geforderten Abstände sehr schön synchron, begleitet von Keyboard, Flöte und Cello, die guten alten deutschen Volklieder, in die das französische „Sur le pont d‘Avignon“ durch seine Beliebtheit schon integriert ist.
Nach angemessener Pause stimmte Dominique Horwitz mit lauten, deutlichen Worten (ins Mikrofon) auf die Ausgangssituation in Peer Gynts Leben ein, in der der Tausendsassa lebenshungrig zu seiner Fantasie-Reise durch Zeiten und Welten, zu Trollen, durch Wüste und Meer mit vielen Hochs und Tiefs aufbricht, und rezitierte zwischen den einzelnen musikalischen Szenen mit der gegenwärtig oft praktizierten, unpersönlichen, herablassenden Kühle moderner Schauspieler die vom Dresdner Stadtschreiber neu und sehr gegenwärtig ins Hier und Heute „übersetzten“ starken Verse Henrik Ibsens, in denen alle Besonderheiten und Kuriositäten der Welt enthalten sind. Seine Worte standen oft in starkem Kontrast zu den sanften, einfühlsamen Klängen der Philharmonie in lyrischen Szenen. Später schien er sich mitunter auch ein wenig mehr vom märchen- und fantasiereichen Text inspirieren zu lassen.
Unter der Leitung von John Storgårds war die kuriose Weltreise Gynts plastisch mitzuerleben. Das Orchester fing auch Naturstimmungen ein, spürte der Mentalität der norwegischen Seele nach und fing das spezifische Flair der Szenen ein. In lyrischen Szenen wurde sehr klangvoll und sensibel musiziert, es gab „echt“ norwegische „Fidel-Klänge“ beim Hochzeitsfest, und in dramatischen Situationen ging es turbulent und aufgebracht zu mit Drive und wirbelndem Schlagzeug, aber in stets schöner Transparenz.
Nach gefahrvollen Situationen schwört Gynt immer wieder den Frauen ab und schwärmt aufs Neue für eine, bis er von Solveig bekehrt und gerettet wird. Nicht nur das bekannte, wunderbar sanft und klangschön von Streichern begleitete „Lied Solveigs“, sondern alle drei Gesangsnummern gestaltete Julia Kleiter mit ihrer warmen, leicht dunkel timbrierten Stimme, perfekt in allen Höhen- und Tiefenlagen, und mit großer Gestaltungskunst, selbstbestimmt, weniger sanft, aber sehr exakt. Da ging auch nicht das kleinste Detail, kein Vorschlag, keine Nuance verloren.
Es war ein sehr stimmungsvoller Abend mit guter Musik auf hohem Niveau in lauschiger „italischer“ Nacht mit Blick auf die berühmte Silhouette der Stadt, deren Lichter sich im Elbe-Strom spiegelten (unvermeidliche verkehrsbedingte Nebengeräusche inklusive).
Ingrid Gerk