Dresden: Kleines Haus des Staatsschauspiels: „ALCINA“ VON G. F. HÄNDEL – EINE PRODUKTION DER HOCHSCHULE FÜR MUSIK – 2.6.2021
Seit einigen Jahren gab und gibt es an vielen Opernhäusern die große Zauberoper (Dramma per musica – Opera seria) „Alcina“ von Georg Friedrich Händel in unterschiedlichen Fassungen und Inszenierungen, z. B. an der Wiener Staatsoper, der Semperoper usw. Die Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden brachte nun diese Oper in Koproduktion mit dem Staatsschauspiel Dresden, der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle und der Hochschule für Bildende Künste Dresden in einer (wegen Corona?) stark gekürzten Fassung (Dauer: 1 Std. 45 min .) heraus (Premiere: 24.4.2021). Zu Händels Zeiten dauerten solche Opern 4 – 5 Std. Das möchte jetzt wahrscheinlich kaum mehr jemand hören und sehen, aber diese Kurzfassung ist extrem kurz und dazu wenig schlüssig.
Die eigentliche Handlung ist kaum nachvollziehbar, selbst wenn man sie genau kennt. Da hilft auch die, von der Regisseurin Barbara Beyer verfasste, diffuse Beschreibung der Handlung im Programmheft nicht weiter. Wie soll das da das für die Zukunft angestrebte Publikum verstehen? Trotz der „Kurzfassung“ wiederholen sich bei der Regie Barbara Beyers, die seit 1996 an deutschen Bühnen ihre „provokanten“ Produktionen zeigte, die nun wirklich nicht mehr provokanten, verschlissenen Regie“einfälle“ und Handlungskonstellationen mit den abgegriffenen „Theatergags“ der vergangenen Jahre und Jahrzehnte, die nun wirklich nicht mehr neu sind und nach kurzer Zeit ermüdend wirken. Statt Interaktion greifen die Akteure, wenn der Regisseurin nichts anderes einfiel, immer wieder zur Zigarette (doch nicht etwa Schleichwerbung in einer Zeit, in der dem Rauchen aus gesundheitlichen Gründen der Kampf angesagt wird?).
Mag sein, dass sich junge Leute heutzutage aus Verlegenheit wirklich so verhalten, so wie sie in dieser Inszenierung ständig frustriert und genervt erscheinen und aggressiv mit primitiver Gewalt reagieren, die (Camping‑)Stühle umwerfen, was nur viel Lärm um nichts verursacht (Stühle müssen wohl auch immer noch sein?) und mit Revolver und Messern spielen, sich selbst und gegenseitig verletzen und ihre Verletzungen lange zur Schau tragen, aber munter weitersingen. Von dem ursprünglichen symbolischen Naturzauber der „Zauberoper“ – in der Barockzeit ein beliebtes Sujet – ist nichts geblieben.
Zu Beginn sitzt die feuerrot-haarige Morgana (die Fee Morgane, die die Seeleute täuscht und verführt) natürlich mit Handy und Zigarette in einer Art roten Garten-Ecke (Bühnenbild: Seongji Jang) aus drei übereinandergestapelten Recht- bzw. Vielecken, aber immerhin als „Insel“ der Zauberín Alcina erkennbar, ein sehr bescheidener Freizeit-Erholungs-Rückzugsort als Mischung aus einer mehr provisorisch zusammengezimmerten Laubenpieper-Hütte (bzw. nur Wand) und Studenten-Bude vor dem Hintergrund eines „Großstadtmeeres“, einer unübersehbaren Häuserflut einer Millionen- oder Milliarden-Stadt mit elektronischer Flug-Anzeigetafel, weil dann mal ein Akteur aus Alcinas wenig zauberhaftem Reich fliehen, d. h. davonjetten will, was aber nicht möglich ist, da wahrscheinlich wegen Corona zu viele Flüge gestrichen sind, also bleibt er und geht dann belanglos ab.
Die Akteure treten immer irgendwie auf und ab. Es gibt so gut wie keine Interaktion. Es passiert etwas auf der Bühne, wenn auch nichts wirklich Relevantes. Ob der vielen ähnlichen Regiemuster und belanglosen Alltagskostüme (Paula Fischer, Annabel Frenzel, Muriel Kunkel – Absolventinnen der Kunsthochschule Halle) droht man zu ermüden, wäre da nicht das professionell spielende Sinfonieorchester der Hochschule für Musik aus Studierenden unter der Leitung von Wolfgang Katschner. Dem neuen Rektor der Hochschule,
Axel Köhler, ist es gelungen, den international gefragten Spezialisten für Alte Musik für diese Aufgabe zu gewinnen. Katschner führte das Orchester, das zum eigentlichen „Star“ des Abends wurde, zu erstaunlicher Professionalität, gutem Klang und sehr guter Umsetzung der historisch informierten Aufführungspraxis, hielt vom ersten Einsatz bis zur letzten Minute die Spannung, führte die Sänger und gab ihnen ein sicheres Fundament, auf dem sie sich entfalten konnten. Die beiden instrumentalen Solopassagen wurden von den Studierenden Clara Heise, Violine und Eduardo Marcos Martinez Ferrer, Violoncello makellos gestaltet. Am Cembalo wirkten Maximilian Otto und Tim Fluch mit.
Die Gesangspartien sind doppelt besetzt. Die jungen Sängerinnen und Sänger dieses Abends waren alle erfolgreich um perfekte Gestaltung und gute Diktion bemüht. Hier dürfte so manches Potential schlummern. Einige von ihnen dürften zu großen Hoffnungen berechtigen, vor allem zwei junge, südkoreanische Sopranistinnen, die ihre Rollen mit flexibler Stimme bereits sehr sicher in allen Tonlagen ausdrucksvoll gestalteten, Sol Her als Alcina und Subin Park als Morgana. Mae Dettenborn bewältigte die Rolle des Oberto durchaus richtig, erschien stimmlich aber sehr zurückhaltend, ebenso Anna Matrenina als Bradamante.
Yonah Raupers verfügt über ein starkes Entwicklungspotential, war aber durch die Regie kaum wirklich als Schäfer Oronte zu erkennen. Er „durfte“ nur immer wieder zur Zigarette greifen (süchtig, Kettenraucher oder sehr nervös?), wirkte aber vor allem auch stimmlich sehr sicher und ausgeglichen. Durch die Regie wurde auch Quanghun Mun als Melisso beeinträchtigt und zur Comprimario-Partie verurteilt. Er konnte sich nicht so, wie er es bei seiner profunden Bass-Stimme vermocht hätte, entfalten, ließ aber einiges vermuten. Der Countertenor Jaro Kirchgessner ist durchaus begabt, hatte als Ruggiero jedoch mit anfänglichen Rhythmusproblemen zu kämpfen, wurde laut Regie zusammengeschlagen und niedergetreten, stand aber zum Glück wieder auf und sang weiter – immer besser.
Von der Verwandlung der auf der Insel „Anreisenden“ durch Alcinas Zauberkraft in Tiere Verwandelten und ihrer erkämpften Rückverwandlung am Schluss war nicht viel zu spüren, außer dass Alcina am Ende mit Müll beworfen wurde, bis es ihrer Schwester Morgana gelang, sie hinter die Kulissen zu ziehen. Simpler geht es nicht. Den Sängerinnen und Sängern und dem außerordentlich kompetent musizierenden Orchester unter Katschners Leitung hätte man gern noch länger zugehört, war aber froh, als das „Theater“ auf der Bühne zu Ende war.
Ingrid Gerk