Dresden/Frauenkirche: „WEIHNACHTSORATORIUM VON J. S. BACH – KANTATEN I bis VI – 8.12.2017
Außerhalb Deutschlands wird das „Weihnachtsoratorium“ von Johann Sebastian Bach kaum aufgeführt, in Mitteldeutschland umso öfter, nicht nur jedes Jahr und in größeren Städten gleich an mehreren Orten mit verschiedenen Ausführenden und mit Wiederholung der Aufführungen, um der großen Nachfrage nachzukommen, denn es erfreut sich größter Beliebtheit. Es ist dann fast überall ausverkauft, oft schon Monate vorher. Der „Rekord“ lag vor einiger Zeit in einem Jahr bei über 20 „Weihnachtsoratorien“ mit den Kantaten I ‑ III in und um Dresden, in großen und kleinen Kirchen und Konzertsälen. Jetzt sind es wesentlich weniger, aber es gibt immer noch eine reiche Auswahl. Die Kantaten werden jetzt oft sehr unterschiedlich ausgewählt und zusammengestellt und auch mit anderen Bachkantaten oder Werken anderer Komponisten kombiniert.
Allein in der Frauenkirche gibt es in diesem Jahr unter Frauenkirchenkantor Matthias Grünert zwei Aufführungen aller sechs Kantaten an einem Abend sowie einmal die Kantaten I-III und am darauffolgenden Tag die Kantaten IV-VI – ein Mammutprogramm für alle Beteiligten. Außerdem gibt es am gleichen Ort eine Aufführung unter der Leitung von Ludwig Güttler mit den Kantaten I, II und einer anderen Bachkantate und das Gleiche als „Gesprächskonzert“ für junge Leute. In der Kreuzkirche sind dann drei Aufführungen der Kantaten I-III und eine Aufführung der Kanten IV-VI nach Weihnachten (wo sie eigentlich hingehören) vorgesehen, und, und, und…
Jede Gemeinde in Sachsen möchte „ihr“ „Weihnachtsoratorium“ haben. Viele Musikfreunde nutzen die Gelegenheit und genießen es mehrmals und in verschiedenen Kirchen, an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Zusammenstellungen. Für viele Deutsche aus allen Bundesländern und Himmelsrichtungen gehört ein „Weihnachtsoratorium“ in der Dresdner Frauenkirche zum Weihnachtsfest dazu. Gleich bei der ersten Aufführung mit allen sechs Kantaten (Dauer: fast 3,5 Std.) war die Frauenkirche voll besetzt – bis unters Dach. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Jahren verließ kaum jemand in der Pause nach den ersten drei, den beliebtesten Kantaten, die Kirche.
Das alles gehört zu einer langen Tradition. Zu einer guten Tradition gehört in Dresden auch eine möglichst makellose, in geistige Tiefen vordringende, Ausführung. Es gibt ausgezeichnete Sänger und Musiker, die hohe Maßstäbe gesetzt haben und denen erfreulicherweise auch die jüngere Generation nacheifert.
Grünert ließ den festlichen, Erwartungen auf das Kommende weckenden, Eingangschor „Jauchzet, frohlocket…“ sehr schnell, zu schnell, um nicht zu sagen überereilt ausführen, was viel von Chor und Orchester verlangte. Dem relativ kleinen, leistungsfähigen, mit Hingabe singenden Kammerchor der Frauenkirche mit seinen guten, sicheren Stimmen gelang es dennoch, Genauigkeit und Transparenz aufrechtzuerhalten. Bei kleineren Gruppierungen machte sich allerdings die geringe Größe des Chores bei allem Bestreben, die Qualität zu erfüllen, bemerkbar. Ein etwas größerer Chor hätte dem doch besser entsprochen.
Trotz des enormen Tempos gelang es dem Orchester, Exaktheit und Klarheit bei diesem festlichen Chor mit Pauke(n) und Trompete(n) beizubehalten. Während der helle, „metallische“ Trompetenklang dem Eingangschor Festlichkeit verlieh, erweckte die ungewöhnlich harte, vordergründige Pauke eher den Eindruck, als ginge es ins Feldlager, weder weihnachtlich, noch kultiviert und schon gar nicht, den Orchesterklang festlich unterstreichend und entsprechende Akzente setzend. Möglich, dass es zu Bachs Zeiten so oder ähnlich geklungen hat, was nicht unbedingt gut gewesen sein und Bachs Vorstellungen entsprochen haben muss. Wir haben jetzt höhere Ansprüche, die auch realisierbar sind. Die musikalische Interpretation hat sich so verfeinert, dass hohe Ansprüche seitens der Ausführenden und auch des Publikums immer mehr einem Ideal bei der Ausführung zustreben.
Mit Britta Schwarz, Alt und Andreas Scheibner, Bass standen zwei erfahrene Oratorien-Solisten zur Verfügung, die dieses Ideal bei jeder Aufführung immer wieder neu bestätigen.
Britta Schwarz, Spezialistin für Alte Musik, gestaltete die Altpartie mit ihrer warmen, samtigen und ausdrucksstarken Stimme, bester Diktion, sehr deutlicher Textdeklamation und liebevoller Exaktheit mit großer Innigkeit. Sie sang alle Details und Verzierungen, den Text gestaltend und unterstreichend, stilvoll aus und schmückte bei den Arien die Wiederholung des ersten Teils (A‘) nach Manier der Barockzeit stilgerecht aus. Damit trug sie sehr zu dem dennoch ansprechenden Charakter der Aufführung bei.
Ähnlich gestaltete auch Andreas Scheibner, ein ausgezeichneter Oratoriensänger neben seiner Tätigkeit als Opernsänger, die Basspartie. Für ihn gibt es stimmlich und interpretatorisch keine Probleme, so dass er die Rezitative und großen Arien souverän, mit großer Klarheit und sehr guter Textverständlichkeit trotz oftmals übereiltem Tempo mit langem Atem gestalten konnte.
Der österreichische Tenor Bernhard Berchthold sang die Rezitative der Evangelisten-Partie überzeugend, ruhig und ausgeglichen, mit schlanker Stimme und besonders deutlicher Textdeklamation, sachlich, aber nicht „trocken“, eher wie leichte Ariosi, ohne dramatisch zu übertreiben, aber auch nicht trist, trotz künstlerischer Gestaltung natürlich wirkend und durchaus mit interessanter Spannung. Die Arien sang er mit schlanker Stimme, gewissenhaft, in Harmonie mit der instrumentalen Begleitung und Orientierung auf eine gute Gestaltung.
Die katalanische Sopranistin Nuria Real brachte etwas anderes Kolorit ein. Sie hatte es nicht leicht neben so versierten, Maßstäbe setzenden, Solisten und sang die Sopranpartie ansprechend, aber mit leichten Problemen in der Höhe.
Allgemein standen sehr gute und erfahrene Interpreten zur Verfügung. Das unermüdlich in sehr hoher Qualität musizierende Orchester ensemle frauenkirche dresden aus führenden Musikern der Sächsischen Staatskapelle und der Dresdner Philharmonie gab während der gesamten Aufführung den guten Ton an und trug wesentlich zu einem positiven Gesamteindruck bei. Trotz Grünerts Bestrebungen, das Tempo immer wieder „anzuziehen“, was mitunter zu leichten Irritationen und damit verbundenen „Unschärfen“ führte, die bei diesen Ausführenden nicht nötig gewesen wären, „pegelte“ sich doch diesbezüglich seitens der Ausführenden langsam ein gutes Maß ein.
Es gab wunderbare Übereinstimmungen zwischen vokaler und instrumentaler Ausführung, zwischen Solisten und Orchestermusikern sowie ausgezeichnete Instrumentalpassagen, wie die sehr klangschön und in einem sehr guten Tempo musizierte „Sinfonia“ am Beginn von Kantate II, sehr eindrucksvolle Violinsoli des 1. Konzertmeisters (Jörg Faßmann) mit einschmeichelndem Klang, weich und wohlklingend, auch zusammen mit einer 2. Violine (Matthias Meißner) in harmonischem Gleichklang, die im Gesamtklang wunderbar klangvolle Akzente setzende, feinsinnige Oboe und Oboe d’amore (Johannes Pfeiffer), die Hörner (Kantate IV), bei denen am Anfang minimale „Kiekser“ (möglicherweise infolge Temperaturschwankungen) nicht ausblieben, die sich aber sehr schöne Verzierungen leisten konnten, die klangvolle Flöte (Rozália Szabó) und die zuverlässig und klangvoll spielenden Continuo-Musiker. Das alles verlieh der gesamten Aufführung doch noch festlichen Glanz und hinterließ einen guten Gesamteindruck.
Ingrid Gerk