Dresden/Frauenkirche: TRADITIONSREICHE WEIHNACHTSMUSIK TRIFFT MODERNE – 5. bis 10.12.2015
Alle Jahre wieder wird in der Dresdner Frauenkirche zur Freude der vielen Dresden-Besucher, die die „Heimliche Weihnachtshauptstadt Deutschlands“ besuchen und für die ein „Weihnachtsoratorium“ immer dazugehört, neben anderer Advents- und Weihnachtsmusik auch J. S. Bachs populärstes Werk in verschiedenen Interpretationen und Zusammenstellungen geboten, in diesem Jahr die Kantaten I ‑ III oder IV – VI oder alle 6 Kantaten an einem Abend unter Matthias Grünert, oder die Kantaten I, II und VI, kombiniert mit einer anderen Bach-Kantate unter Ludwig Güttler.
Es ist immer wieder verwunderlich, warum sich nur die ersten 3 Kantaten außergewöhnlich großer Beliebtheit erfreuen, obwohl doch gerade die Kantaten IV ‑ VI von mitreißender musikalischer Dramatik sind und besonders geheimnisvoll erscheinen. Deshalb soll hier eine „komplette“ Aufführung unter der Leitung von Matthias Grünert, der auch an der Continuo-Orgel saß (5.12.) stellvertretend für die anderen Aufführungen stehen. Trotz der „Überlänge“, die mit ca. 3 Std., genau betrachtet, eigentlich keine ist – eine Wagner-Oper, die man geduldig anhört, dauert (ohne Pausen) ca. 3–4 Std., – gab es keine „Ermüdungserscheinungen“, weder bei den Ausführenden noch beim Publikum, im Gegenteil, es war eine ansprechende Aufführung, wenn auch eingangs die dröhnende Pauke (bei der speziellen Akustik der Frauenkirche) nicht wie die Eröffnung festlicher Weihnachtsmusik, sondern eher wie die Feldmusik früherer Jahrhunderten klang. Etwas weniger an Intensität wäre hier mehr an Wirkung gewesen.
Abgesehen von diesem „Wermutstropfen“ musizierte das sehr zuverlässige ensemble frauenkirche über die gesamte Aufführungsdauer in guter Tempowahl und vor allem klangschön, was besonders in der „Sinfonia“ zu Beginn der 2. Kantate zum Ausdruck kam, aber auch bei der solistischen Begleitung mancher Arie, wie bei der (den) geschmeidigen Solo-Violine(n) und der viel „beschäftigten“ Solo-Oboe mit ihrem singenden Ton, immer in schöner Übereinstimmung zwischen menschlicher und instrumentaler Stimme, vergleichbar einem Duett.
Großen Anteil am Gelingen der Aufführung hatten die bewährten, im Oratoriengesang erfahrenen und immer wieder begeisternden Solisten, bei denen keine Routine spürbar ist. Sie vertiefen sich bei jeder Aufführung immer wieder neu in Text und Musik, weil Ihnen jede Aufführung wichtig ist. Ihre Interpretation genügt allerhöchsten Ansprüchen.
Eine von ihnen ist Ute Selbig, die die Engelsverkündigung wirklich wie eine wichtige Offenbarung sang und der „Echo-Arie“ mit feinem, natürlich wirkendem Crescendo besondere Schönheit verlieh, auch wenn das Echo von einer Chorsängerin aus der Ferne sehr unterschiedlich ausfiel. Mit schöner, geschmeidiger Stimme sang Ute Selbig auch Rezitativ und Arie in der VI. Kantate („Nur ein Wink von seinen Händen“) auf sehr hohem Niveau.
Die Alt-Partie lag bei Britta Schwarz mit ihrer warmen, samtenen Stimme in den allerbesten Händen. Sie ist eine ideale Oratoriensängerin. Ihre Stimme verfügt über sehr viele Klangfarben, die sie entsprechend einzusetzen versteht. Mit der Wärme ihrer Stimme sorgte sie bereits beim ersten „Arioso“, gefolgt von der Arie „Bereite dich, Zion“, die sie im Wiederholungsteil (A‘) mit einigen dezenten Verzierungen schmückte, für die ideale Wiedergabe. Mit der Arie „Schlafe, mein Liebster“ bereitete sie dem Kind mit sehr langem Atem ein inniges Wiegenlied und mit der, mit sehr viel Hingabe gesungenen Arie „Schließe, mein Herze“ , begleitet von klangschönen sanften Klängen der Solo-Violine (Jörg Faßmann), sorgte sie für ein lange nachklingendes Hörerlebnis.
Die Basspartie hatte der versierte Konzert- und Oratoriensänger Klaus Mertens übernommen. Er setzte seine vielfältigen gesanglichen Fähigkeiten für eine mühelose, sehr gute Gestaltung ein. Die Arie „Großer Herr, o starker König“, den Gradmesser dieser Partie, sang er nicht nur makellos und souverän, sondern auch kraft- und klangvoll und in schöner Weise differenziert.
Allen drei Solisten ist sehr großes Engagement und Ernsthaftigkeit eigen. Sie stellen sich mit ihren Fähigkeiten, sehr guten gesangstechnischen Voraussetzungen, ausgezeichneter Textverständlich, entsprechender Diktion und, dem Inhalt entsprechender – und sehr ansprechender – Gestaltung ganz in den Dienst einer großen Aufgabe, einer möglichst idealen Wiedergabe der großen Werke der „Musikalischen Weltliteratur“, und das mit Herz und Verstand.
Bei der Evangelisten-Partie ist noch immer Peter Schreier der Maßstab aller Dinge. Markus Schäfer hatte ihn offenbar als Orientierung gewählt und in gleicher Art die Partie einstudiert. Er sang lebhaft und mit guter Textverständlichkeit, wobei es naturgemäß schwer ist, ein so bedeutendes Vorbild zu erreichen.
Mit schönen Chorälen und gut gesungenen Chören ergänzte der Kammerchor der Frauenkirche eine „lange“ Aufführung, bei der es aber keine „Längen“ gab. Es wurde frisch und klangschön und meist in gut gewählten Tempi musiziert, so dass die Aufführung einen harmonischen Gesamteindruck hinterließ.
Einen ganz anderen Eindruck hinterließ der WINDSBACHER KNABENCHOR (9.12.) unter der Leitung von Martin Lehmann, der das Programm unter dem Motto „Traditionelle Adventsmusik trifft Werke der Gegenwart“ zusammen mit dem, 1992 in München gegründeten, Modern Slide Posaunen-Quartett aus Musikern klassischer Orchester, die sich oft in eigenen Arrangements der Gegenwart stellen, konzipiert hatte.
Was mit dem einleitenden „Basse danse“ von Claude Gervaise (1. Hälfte 16. Jh.) zunächst verheißungsvoll begann, führte in starken Kontrasten in nicht sehr glücklicher Konzeption und schroffen Übergängen (nicht ohne Härten) zu einem zwiespältigen Eindruck, der weniger in der Programmwahl, als vielmehr in der Wiedergabe bestand. Der Chor sang meist in nicht alltäglicher Zurückhaltung, sehr fein, in verhaltenem Piano – offenbar eine Stärke des Chores ‑, während die Arrangements des Posaunenquartetts in drastisch moderner Art einen Gegenpol bildeten.
Mit Motetten von Andreas Hammerschmidt, Max Reger, Benjamin Britten und Michael Prätorius, letztere in einer Bearbeitung als „Clustermotette“ von Jan Sandström (*1954), und altbekannten Weihnachtsliedern in Bearbeitungen (Günter Raphael, Johannes Eccard) oder im „Original“ war die Tradition vertreten, differenziert, klangschön und tonrein. Alles, was bei Knabenchören so beliebt ist, war da. Solostimmen aus dem Chor, u. a. ein Knabensopran mit erstaunlich kräftiger, sicherer Stimme, ein Knaben-Alt und ein Tenor-Solo, im Wechselgesang mit dem Chor, ein, nur vom (Jung-)Männerchor gesungenes, Stück und ein Fern-Chor unter Ausnutzung der Raumwirkung der Kirche sorgten für Abwechslung. Dazu bildeten die Posaunen-Arrangements den Gegenpart, aber es blieben zwei Seiten verschiedener Medaillen, die über 1½ Std. Non-Stopp-Programm nicht so recht miteinander in Einklang kommen wollten, wenn es auch gelegentlich eine gute Verschmelzung von vokal und instrumental gab. Was gut gedacht sein mochte, erreichte nicht die erhoffte Wirkung. Zu unterschiedlich waren die beiden Arten der Interpretation „Über die Freude“, die letztendlich nicht aufkam.
Darüber konnten auch die beiden, als Zugaben gesungenen Weihnachtslieder, „Adeste fideles“ mit Posaunen und Chor und das sanfter gesungene „Stille Nacht“ nicht hinwegtäuschen.
Einen zwiespältigen Eindruck ganz anderer Art hinterließ das, in der langen Dresdner Streichertradition verwurzelte PHILHARMONISCHE KAMMERORCHESTER (10.12.) durch eine gewagte Programmzusammenstellung. Mit Verve, Musizierfreude und viel Gefühl für die altitalienische Musik widmete sich das Kammerorchester aus Mitgliedern der Dresdner Philharmonie unter der Leitung von Wolfgang Hentrich, dem Primus inter Pares an der 1. Violine, zunächst mit gekonnter barocker Stufendynamik und vor allem großer Klangschönheit dem „Konzert für vier Violinen, Streicher und Basso continuo h‑Moll“ (op. 3), Nr. 10 von Antonio Vivaldi.
Die feierliche Stimmung wurde noch gesteigert durch das überaus festlich musizierte „Brandenburgischen Konzert“ Nr. 5 (BWV 1050) von J. S. Bach, bei dem Wolfgang Henrich, Violine, Karin Hofmann, Flöte und Jobst Scheiderat am Cembalo mit großem Engagement, technisch perfekt und mit musikalischem Feingefühl in schöner Harmonie für eine ausgewogene Gestaltung der Soloparts und ein vitales Musizieren mit dem übrigen Orchester sorgten.
Mit ihren Fähigkeiten und großer Hingabe widmeten sich die Musiker auch der „Musica adventus“ für Streichorchester“ von Peteris Vasks (*1946), einem der bedeutendsten lettischen Komponisten der Gegenwart. Es begann mit dem leisesten, gerade noch wahrnehmbaren ppp, dem ungewöhnliche, seltene, aber noch tonale Töne folgten. Mit seinen fremdartigen, durchaus gefühlvollen und nachvollziehbaren, an die Spätromantik erinnernden Klängen, unterscheiden sich Vasks‘ Kompositionen von den meisten seiner Zeitgenossen, aber es gibt gelegentlich auch Passagen mit leichter oder, sich wie in einen Wirbel hineinsteigernder, Motorik. Beide Elemente, mit denen die Reibungen der ethisch unvereinbaren Vorstellungen Vasks‘ zum Ausdruck gebracht werden, ziehen sich im Wechsel über einen längeren Zeitraum hin, elegisch, eigenwillig, aber nicht „nervig“. Sie assoziieren „innere“ Stimmungsbilder, die die ethischen Grundsätze und spirituellen Überzeugungen des Komponisten als einem leidenschaftlichen und freimütigen Geist entsprechen. Er möchte die Menschheit auffordern, für das Leben auf der Erde und damit für ihren eigenen geistig-moralischen Zustand Verantwortung zu übernehmen.
Trotz der sensiblen Wiedergabe mit Hingabe und allen Feinheiten des Streicherklanges, aber auch innerer Spannung und viel Verständnis der Ausführenden (und Zuhörenden) für diese Musik sprengte sie in ihrer Länge und langen musikalischen Bögen in variantenreichen Wiederholungen den Rahmen dieses Abends. Man braucht viel Geduld und Muße, Zeit und innere Ruhe, um diese weit ausgebreitete, melancholisch aufgeladene Musik zu hören, worauf man bei der Ankündigung als „Adventliches Konzert“ mit Vivaldi, Bach und Manfredini nicht gefasst war.
Umso anregender erschien danach das „Concerto grosso op. 2, Nr. 12“, die „Pastorale per il Santissimo Natale“ bei der Francesco Manfredini (1684-1762) in 3 kurzen Sätzen sehr viel erwartungsvolle, weihnachtliche Freude und positive Stimmung auszudrücken vermochte und auch einem, als Zugabe gespielten, Satz altitalienischer Barockmusik immanent war, aber die pessimistisch-melancholische Stimmung, die Vasks hinterlassen hatte, nicht so leicht übertönen konnte.
Ingrid Gerk