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DORTMUND: PETER GRIMES – Borough, das Dorf der Verdammten. Grandios faszinierendes Musiktheater in Dortmund – Premiere

10.04.2016 | Oper

PETER GRIMES – grandios faszinierendes Musiktheater in Dortmund – Premiere am 10.4.16

BOROUGH – Das Dorf der Verdammten

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Peter Marsh. Copyright: Theater Dortmund/ Thomas Jauk

Borough ist ein übles Nest an irgendeiner Küste in irgendeiner üblen Welt, oder ist es gar die unsrige? Wer hier lebt, ist verdammt, quasi eingezirkelt wie in einem Gefängnis – tolles Bühnenbild von Annika Haller. Der Lebensalltag der Dorfbewohner – ein mieser Haufen – vollzieht sich wenig abwechslungsreich im gelegentlichen Fischen, Herumlungern und der abendlichen Sauferei. Da gibt es natürlich regelmäßig auch blutige Nasen, wenn nicht mehr. Irgendwie haben alle Dreck am Stecken. Doch das interessiert keinen in dieser mehr oder weniger korrupten Zwangsgemeinschaft von Denunzianten, Aufhetzern, Alkoholikern, Drogensüchtigen, Prostituierten und Schlägern.

Eine düstere Welt für die es nur einen Regisseur geben kann: Tilman Knabe!

Und dieser Meister des lebendigen Musiktheaters bringt das alles so hautnah, beängstigend und real rüber, dass es beim Zuschauer Beklemmung evoziert und empfindsame Menschen mit Gänsehaut überzieht. Man kann förmlich den Fisch riechen, den Peter Grimes (anscheinend der Einzige der überhaupt arbeitet) vorne an der Bühne entbeint. Dass er geschickt mit dem Messer umgehen kann, wird uns später auf üble Art und Weise klar. Allerdings möchte ich die richtigen Theatercoups (die besten Szenen) nicht verraten – das kriegen schon die Kritiker-Kollegen hin ;-)). Es gibt also hier bei mir keine „Spoiler“!

Anmerkung: Als Spoiler (Filmkritikersprache!) bezeichnet man Inhalte in einer Besprechung, die wesentliche spannende Wendungen und Überraschungsmomente dem Leser vorher verraten; was ich keinesfalls machen werde. Oder was würden Sie sagen, wenn Ihnen jemand vor Beginn von Hitchcocks PSYCHO schon die Duschszene und das schockierende Ende, von der Mutter im Rollstuhl, verraten würde. Das wäre doch eine ziemlich üble Sache, oder?

Doch zurück zu unserer „netten“ Dorfgemeinschaft von – na sagen wir es mal klar – potentiellen Meuchelmördern. Da ist Swallow, der korrupte Bürgermeister und Meister im Fällen dubioser Gerichtsurteile. Keene, der Apotheker, macht seinem Berufsstand alle Ehre, nicht nur daß er beständig auf das Wohl der Kranken trinkt, nein, er versorgt sie auch mit Rezepten (sprich: Drogen) und vermittelt Kinder. Sic ! Selbstverständlich sind es nur Kinder, die das auch „verdient“ haben; jene unchristlich Geborenen, vor deren Ausbeutung und Missbrauch auch die Pfaffen ihre Augen schließen, wenn sie nicht gleich selber an ihnen tätig werden. Erinnert Sie das an irgendetwas?

Mrs. Sedley gehört zu den wenigen, nicht ganz so Aggressiven, denn sie versinkt in Opium, Horrorfantasien und Alpträumen. Ja, sie träumt böse, ganz garstige Dinge. Und da sind wir wieder beim großen Musiktheater-Regisseur Knabe, denn ich kenne keinen, der solcherlei dermaßen plastisch, optisch gruselig und geradezu cineastisch faszinierend in Cinemascope darstellen kann.

Nichts für schwache Nerven, liebe Opernfreunde! Sensiblen Seelen rate ich allerdings nach der Pause (immerhin hat der friedliebende Operngänger ja dann schon fast zwei Stunden Britten genossen) doch sicherheitshalber zu gehen. Denn dann gibt es starken Tobak.

Ich hatte noch die liebe Tante Auntie vergessen: ihre Kneipe mit angeschlossenem Bordellhinterzimmer, wo ihre Nichten die Dinge betreiben, die man (noch nicht) auf der Vorderbühne zeigen kann, ist eigentlich ein ehrenwert, ehrliches Business. Sie zahlt bestimmt auch Steuern… als einzige.

Die gesamte Stimmung ist von Anfang bis zum Ende bedrückend unerquicklich. Die fabelhaft milieutypischen Kostüme von Eva-Mareike Uhlig scheinen geradezu Kneipenduft (Bier, Schweiß und Alkohol) sowie jahrelange Ungewaschenheit auszumiefen. Ich saß GsD in der 11. Reihe.“Nee watt fies!“ kommentierte eine ältere Dame neben mir ungefragt die Szene.

Und wenn ich zusätzlich noch die tolle Lichtregie vom Florian Franzen lobe, dann auch deshalb, weil sie sich ein wichtiges Moment dieser Produktion ist und mich grandios überzeugte.

Und nun Hand aufs Herz, liebe Opernfreunde: So eine nette Truppe kann dann doch schonmal auch einen Serienmörder und Triebtäter unter sich verkraften; wenn er es nicht zu weit treibt. Und das tat er leider…

Die musikalische Seite dieser Produktion war zumindest am Premierenabend nicht nur in den Hauptpartien betörend. Selten habe ich z.B. das Quartett der Frauen so wunderbar gehört….

Judith Christ als Auntie überzeugt ebenso wie ihre koketten Nichten (Tamara Weimerich / Ashley Thouret). Wenn Kollege Zimmermann schreibt „sie sind auch figürlich zum Anbeißen“ dann kann ich mich dieser wunderbaren Formulierung nur anschließen ;-). Martina Dike als Mrs. Sedley, Karl-Heinz Lehner als Swallow, Hannes Brock (Pfarrer Adams), Morgan Moody (Apotheker Keene), Thomas Günzler (Fuhrmann Hobson), Fritz Steinbacher (Apotheker Boles), Sangmin Lee (Balstrode) und Hans-Peter Frings (Dr. Crabbe) bilden ein Team an Sängern, wie man es auch auf einer ausgesuchten Plattenversion selten findet. Durch die Bank weg ohne Fehl und Tadel und mit großem Einsatz. Knabe und seine Mitstreiter fanden hier Künstler, die nicht nur sein Konzept verstanden haben, sondern regelrecht darin aufgehen – sie leben diese Rollen. Bravi per tutti!

Peter Marsh ist genau der Tenor, den sich Britten (er schrieb solche Rollen für seinen Lebenspartner Peter Pears) sicherlich vorgestellt hatte. Die Partie ist eben keine für einen dramatischen Heldentenor, mit welchem die Rolle oft besetzt wird, sondern hier muss auch Lyrik in der Stimme erblühen, wie beim Siegmund – und ein Schuss Italianita. Was Marsh hier abliefert hat internationales Format und gehört zu den besten und schönsten Interpretationen, die ich in den letzten Jahren (PETER GRIMES wird ja nicht eben selten gespielt) gehört habe. Emily Newton (Ellen) ist ein weiterer Stern dieser Aufführung. Wir lobten schon mehrfach ihren „glockenreinen Sopran“ in verschiedensten Produktionen – egal ob als Elisabeth (Tannhäuser), Marschallin (Rosenkavalier) oder als Megastar in der Texas Oper „Anna Nicole“ – das hatte alles internationales Format.

Und das GMD Gabriel Feltz auch diesen Britten seine hochqualitative Handschrift aufdrücken würde, war angesichts seiner bisherigen fabelhaften Dirigate schon fast zu erwarten. Was für ein Dirigent! Die Dortmunder Philharmoniker zeigten sich als nicht nur hochklassisch, sondern an diesem Abend spielten sie überragend. Manuel Pujol hatte den Chor, der wirklich außer dem Singen viel zu tun hatte und wo sich jeder einzelne auch als akkurat perfekter Darsteller präsentierte, bravourös vorbereitet.

Einen solchen Sterneabend, wo wirklich alles stimmte und stimmig war, erlebt man selten und dafür vergibt die Redaktion des OPERNFREUNDs spontan schon Stunden nach der Premiere den begehrten Opernfreund-Stern. In dieser Form und Konstellation gehört das Dortmunder Opernhaus aktuell nicht nur in NRW, sondern auch international betrachtet auf einen Spitzenplatz.

Peter Bilsing

 

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