Petr Sokolov, Aytaj Shikhalizada. Copyright: Anke Sundermeier/stage picture
DORTMUND: IL BARBIERE DI SIVIGLIA
am 10.10. 2018 (Werner Häußner)
Da hampeln sie also an ihren Fäden, die Geschöpfe von Gioachino Rossini und Cesare Sterbini, verkettet mit ihren alten Wurzeln in der Commedia dell’arte und überformt von Beaumarchais‘ vorsichtig die Zensur fürchtenden revolutionären Gedanken. In Dortmund macht der 1987 geborene Martin G. Berger zum Beginn der Intendanz von Heribert Germeshausen aus dem „Barbier von Sevilla“ ein Marionettenspiel, richtet Rossinis unsterbliche musikalische Komödie rücksichtslos nach eigenen Bedürfnissen ein und lässt die Oper nach einer resigniert vergeblichen Revolution „gegen die Festschreibungen einer Gesellschaft“ ziemlich lädiert zurück.
Berger war von 2009 bis 2012 Regieassistent und Abendspielleiter an der Oper Dortmund, arbeitet seit 2015 frei und hat mit einigen Inszenierungen wie der „Verkauften Braut“ in Hannover oder dem mit Jelinek-Texten aufgebrochenen „Faust“ Charles Gounods in Heidelberg Opernkonventionen unterlaufen. Dafür wurde er für den Theaterpreis „Der Faust“ nominiert, der im November 2018 verliehen wird. In Augsburg hat Berger mit einer Neufassung der Paul-Abraham-Operette „Roxy und ihr Wunderteam“ eine berührende, stringent erzählte Story über die Ausgrenzung schwuler Sportler im kommerziellen Fußball entwickelt. Viel Kreatives also – Berger gilt als einer der „kommenden“ Regisseure der jungen Generation.
Auch im „Barbiere di Siviglia“ schert er sich nicht viel um die Form des Originals: Die Arie des Figaro, „Largo al factotum“ eröffnet das Spiel, das Multitalent zappelt an seinen Seilen um überlebensgroße, von Rachel Pattison gebaute Puppen, bei denen er schon einmal einen Kopf nach hinten klappen kann. Figaro hier, Figaro da – für den fliegenden Harlekin kein Problem. Die Form der Oper mit ihrer Folge von Rezitativen und Musiknummern wird aufgelöst. Arien und Ensembles sind Einschübe in einem Märchen, das ein Erzähler („Es war einmal …“) vorträgt und auf eine – vom Grafen für nötig befundene – „neue Weltordnung“ trimmt. Im Finale des ersten Akts, wenn alles drunter und drüber geht und Rossini die Gehirne in musikalischer Raserei wirbeln lässt, wird auch dieser Erzähler Opfer des Grafen, der die Marionetten von den Fäden schneidet. Hannes Brock, verdientes Dortmunder Urgestein, erfüllt die Rolle des Conférenciers mit soignierter Sprache. Den aktualisierenden Späßen, etwa vom I-Phone des Grafen, gibt er so eine komische Würde; auf Dauer aber wird der Fluss der Rede lang und sorgt für Löcher in der Spannung.
Dazwischen gibt es in der Reihe der Nummern viel zu erleben: Alexander Djurkov Hotter bestätigt in seinen Kostümen die alten Rollenklischees, etwa bei Doktor Bartolo den geschmacklos bunten, beleibten „alten Sack“. Aber er bricht sie auch ins Komisch-Fantastische auf, etwa wenn Rosina sich aus ihrem überkandidelten Uralt-Reifrock herausschält und sich, ihren Arientext wörtlich nehmend, zur „Viper“ verwandelt, deren grünlicher Schwanz über die Bühne peitscht. Oder wenn Don Basilio den Bühnenkasten Sarah-Katharina Karls zum hoffmannesken Panoptikum verwandelt und grotesk vergrößerte pyrotechnische Effekte zwischen den im Video zu monströsen Seilen aufgeblähten Marionettenfäden zündet.
Da geht die Musik dann schon einmal im Wunder unter, zumal Denis Velev nicht den bassschwarzen Nachdruck für das Kanonen-Crescendo von Basilios Arie hat und Dirigent Motonori Kobayashi die Rossini-Eruption eher verhalten stattfinden lässt. Eines der treffendsten Bilder der Inszenierung gelingt, als der Graf den universell begabten Barbier durch den Glanz des edlen Metalls dienstbar macht: Über einem riesigen Berg von Gold schwebt ein Skelett, das dem Figaro die Ideen einflüstert.
Im zweiten Akt versuchen die befreiten Figuren dann auf schwankenden Beinen, die Intrige selbständig durchzuziehen, die sie im ersten Akt fremdgesteuert in Szene gesetzt haben. Jetzt kappt Berger die Fäden zur Handlung noch strikter: Die komplexe, von Figaro erdachte Inszenierung mit dem Ziel, Rosina zu befreien, ist nur noch in Rudimenten zu erahnen. Die Figuren streben schlussendlich an ihre Schnüre zurück und besingen, erfolgreich in die Geschirrhaken eingeklinkt, erleichtert die Liebe, die sich durchgesetzt hat. Das Fazit zieht süffisant der Erzähler: Was von „Liebe und ewige Treue“ zu halten ist, möge man in der Fortsetzung der Geschichte, Mozarts „Hochzeit des Figaro“ nachlesen.
Nun ja, schauen wir doch nach! Bei Mozart setzen sich Mut und Witz gegen die Zumutungen eines Mannes durch, der von der Mühe echter Liebe irritiert und von Zeit und Gewöhnung zermürbt sein Heil im sexuellen Abenteuer sucht. Rossinis „Barbiere“ vermittelt eine ähnlich humane Hoffnung, mag sie auch mehr Wunsch als Wirklichkeit sein: Standesgrenzen, Geld und Gier können die Liebe nicht wirklich hindern, auch wenn sie sich mit der bezahlten Raffinesse eines „Hallodri“ wie dem Figaro verbünden muss. Das ist auf seine Weise untergründig subversiv. Am Ende von Bergers Inszenierung aber rollen sich die Tapeten mit den kitschigen, fliederfarbenen Riesen-Rosen aus Rosinas Mädchengefängnis wieder ab. Revolution aufgegeben, alles beim Alten. Und an die Liebe glauben wir schon lange nicht mehr.
Unter der Dominanz der Inszenierung hat es die Musik schwer, sich durchzusetzen. Dirigent Motonori Kobayashi bevorzugt einen leichtfüßigen, aufgelockerten Klang und maßvolle, aber nicht lahmende Tempi. Die Dortmunder Philharmoniker sitzen in der Ouvertüre einem krassen Missverständnis auf, sind in manchen Übergängen in den Violinen zu hastig, begleiten aber in den Gesangsnummern die Solisten flexibel und mit Rücksicht auf den Atem. Manchmal – etwa im Duett des Grafen Almaviva mit Figaro im ersten Akt – fehlt es an der Markanz der Pizzicati in den Bässen, die das rhythmische Grundgerüst mit federnder Energie sichern sollten. Bei den Crescendi lässt Kobayashi nicht los; die Gewittermusik bleibt daher matt und wirkt zu kalkuliert. Dass der Chor unter Fabio Mancini nur schwer mit den rasanten Orchesterfiguren zu koordinieren ist, wundert nicht: Im ersten Finale wird der ganze Graben umspielt, entsprechend ist es kaum möglich, den Kontakt zum Dirigenten, zu den Solisten und untereinander zu halten.
Mit Sunnyboy Dladla hat Dortmund einen versierten Rossini-Tenor im Ensemble, für dessen Tessitura man sich in Zukunft mehr passende Stücke wünschen würde, zumal er auch als Darsteller „bella figura“ machen kann. Auch wenn die Tongebung hin und wieder etwas abgemagert wirkt, hat er ein glanzvolles, brillantes hohes Register und eine reibungslose Geläufigkeit. Es darf durchaus sein, dass ein Spielplan auch einmal auf einen herausragenden Solisten in einem speziellen Fach zugeschneidert wird!
Auch Aytaj Shikhalizada überzeugt als Rosina mit dunkel gefluteter Tiefe, ausgezeichnet positionierter Mittellage und koloratursicherer Phrasierung, dass sie für das Rossini-Fach alle technischen Fähigkeiten mitbringt – und dazu eine bezaubernde Darstellerin sein kann. Mit Morgan Moody als Bartolo steht ein präsenter, kerniger, in der Artikulation sattelfester Bass auf der Bühne, der diese gern defizitär besetzte „komische“ Rolle voll und ganz ausfüllt. Ji-Young Hong kriecht als Schnecke über die Bretter, darf aber die Arie der Berta leider nicht zum Besten geben. Petr Sokolov ist ein spielfreudiger Barbier mit einem eher kraftvollen als eleganten Bariton.
Am Ende bleibt der Eindruck eines konzeptuell durchdachten, aber vielleicht gerade deshalb überfrachteten Abends; die selbstverständliche Eleganz, mit der Berger in Augsburg Paul Abrahams Operette durchgestaltet hat, geht diesem „Barbiere“ ab. Jan Philipp Gloger hat Rossinis Meisterwerk in Essen nicht weniger pointiert, aber flüssiger und leichtfüßiger inszeniert. Mal sehen, wie sich der junge Regisseur bei seiner nächsten – vom Intendanten bereits angekündigten – Dortmunder Arbeit bewährt.
Werner Häußner