Donaueschinger Musiktage 2024/DONAUESCHINGEN
Explosive Stimmungsbilder
Copyright: Musiktage
Wieder präsentierte Festivalleiterin Lydia Rilling viele Highlights. Der Karl-Sczuka-Preis 2024 geht an das Radiostück „Revenant“ der kanadischen Soundkünstlerin Anna Friz. Es ist eine interessante Produktion des Österreichischen Rundfunks aus dem Jahr 2023. In diesem zweiteiligen Werk untersucht sie Vergänglichkeit, Verwandlung und Wiederkehr mit elektroakustischen Mitteln und Field Recordings, die auch in auditive Unterwelten vordringen. Technologien radiophoner Übertragung werden hier ganz bewusst genutzt, um einen intimen Kosmos physischen Verfalls hörbar zu machen. Den Karl-Sczuka-Förderpreis 2024 erhält die Produktion „Ecce, sigh! Siren calls…still, I feel the same“ von Antonia Alessia Virginia Beeskow. Es geht hier um eine archäologische Expedition in akustische Archive des Alltags, die spannend ist. Das Karl-Sczuka-Recherchestipendium 2024 in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut geht an Maya Nguyen für ihr Hörstück „ZOOM01_DXC_BER.MP3“ (Dong Xuan Center). Im Strawinsky-Saal konnte man die Arbeiten während der Preisverleihung hören.
In den Donauhallen gab es einen weiteren Höhepunkt mit dem SWR Vokalensemble und dem SWR Experimentalstudio mit Maurice Oeser, Thomas Hummel, Daniel Miska (Klangregie, Musikinformatik) unter der inspirierenden Leitung von Yuval Weinberg. Herausragend war dabei das dritte Stück „Feu sur moi“ für 24-stimmigen Chor und Elektronik (2023-2024) von Franck Bedrossian. Es handelt sich um einen Kompositionsauftrag von SWR und Warschauer Herbst. Bedrossian bezieht sich dabei auf das von Arthur Rimbaud im Jahre 1873 verfasste Werk „Une saison en enfer“, das Autobiografie und Fiktion zugleich ist. Die „Saison“ ist das Buch von Rimbauds Rebellion gegen seinen Katechismus. Es geht hier um eine spannungsvolle musikalische Fortschreibung von neun kurzen, dichten Stationen. Sequenzen wie „Mauvais sang“, „Delires I – Vierge folle“, „L’impossible“ oder „Adieu“ geben einen elektrisierenden Einblick in den Gegensatz zwischen solistischen Stimmen und polyphonem Schreiben. Kontrapunktische Prozesse werden so auf den Kopf gestellt. Bestimmte Phrasen werden auch eher gesprochen als gesungen. Elektronische Klänge ersetzen hier in geradezu aufregender Weise die Sprache. Der Chor repräsentiert die „alltägliche Hölle“ von Satzfetzen und Momentaufnahmen. Spiegelungen und Resonanzen ergänzen dieses Stimmungsbild. „Was frag ich nach der Welt“ für 24-stimmigen Chor a cappella von Michael Finnissy stellt Bezüge zu den „Musikalischen Exequien“ („Begräbnis-Missa“) von Heinrich Schütz her. Schrecken und Grausamkeiten des Krieges werden ganz im Sinne von Andreas Gryphius klangfarblich dicht beschrieben. „On the Edge“ von Claudia Jane Scroccaro für sechs Solistinnen, Chor und Elektronik ist eine ansprechende klangliche Reise, die von Geschichten von Frauen inspiriert ist, die am Rande der Gesellschaft leben müssen. SWR Vokalensemble und SWR Experimentalstudio fanden unter der Leitung von Yuval Weinberg ganz zusammen.
Die eigentliche Überraschung der diesjährigen Donaueschinger Musiktage fand aber in der Baarsporthalle statt, wo das Abschlusskonzert mit dem exzellenten SWR Symphonieorchester unter der inspirierenden Leitung von Vimbayi Kaziboni für Furore sorgte. Es wurden drei klanglich sehr starke und eindrucksvolle Stücke aufgeführt, die sogar noch mehr Eindruck hinterließen wie die Werke im letzten Jahr. Gleich zu Beginn fesselte die konzentrierte Wiedergabe von „REW PLAY FFWD“ für Orchester und Elektronik (2024) von Francisco Alvarado. Glissando-Effekte, Unisono-Passagen und chromatische Auf- und Abschwünge beschreiben hier in spannungsvoller Weise Kindheitserinnerungen, die von Klängen des Magnettonbands inspiriert sind. Tonhöhenschwankungen, Zufallsschleifen oder Fehlgeräusche schaffen eine faszinierende klangliche Aura. „Ding, Dong, Darling!“ für Orchester und Elektronik (2024) der 1991 in Zagreb geborenen Komponistin Sara Glojnaric hinterließ als weiterer Kompositionsauftrag des SWR ebenfalls einen hervorragenden Eindruck. Der Dirigent Vimbayi Kaziboni verstand es ausgezeichnet, die in unendlichen Staccato-Attacken gefangenen Klangflächen zu aktivieren. So wurden diese explosiven Stimmungsbilder immer mehr angeheizt. Es ist ein ungewöhnliches Stück über „Queer Joy“. Popkultur, Online-Slang und der moderne Internet-Diskus werden gleichsam paraphrasiert. Das Stück beschreibt, wie Chappell Roan offen über ihre Sehnsucht nach anderen Frauen singt. Hier agieren überwiegend schwarze Frauen und Trans-Frauen. Freude und Vergnügen im Leben von LGBTQ+Personen soll dabei geschildert werden. Dies gelingt der Komponistin Sara Glojnaric sehr eindringlich und ausdrucksstark.
Zuletzt überzeugte auch das Stück „Unforeseen dusk: bones into wings“ von Chaya Czernowin für sechs verstärkte Stimmen, Orchester und Elektronik (2023). Hier agieren die Neuen Vocalsolisten Johanna Vargas (Sopran), Susanne Leitz-Lorey (Sopran), Truike van der Poel (Mezzosopran), Martin Nagy (Tenor), Guillermo Anzorena (Bariton) und Andreas Fischer (Bass) mit höchster Intensität. In diesem Stück wird nichts erzählt. Es geht hauptsächlich um Sinneseindrücke nackter Emotionen. Die Stimme ist zugleich Atem, Geräusch, Bewegung und eine Art Butoh (japanisches Tanztheater). So erinnert das alles an eine Oper. Zwischen irisierend-hypnotischen Bässen sind Pizzicati und Glissandi zu hören, deren Intensität immer weiter zunimmt. Harte Harfen-Passagen korrespondieren mit grellen vokalen Einwürfen. Für alle drei Stücke gab es viele „Bravo“-Rufe. Ein bedeutungsvolles Hoffnungszeichen für die Neue Musik.
Alexander Walther