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DMITRI SHOSTAKOVICH: Symphonien Nr. 1-15, Melodiya 13 CDs

Maßstabsetzende neue Gesamteinspielung aus Kazan mit dem Nationalen Sinfonieorchester Tatarstan unter Alexander Sladkovsky

28.06.2018 | cd

DMITRI SHOSTAKOVICH: Symphonien Nr. 1-15, Melodiya 13 CDs

Maßstabsetzende neue Gesamteinspielung aus Kazan mit dem Nationalen Sinfonieorchester Tatarstan unter Alexander Sladkovsky

 

Dank der Fußball-WM 2018 dürfte zumindest vielen Sportbegeisterten die Hauptstadt Kazan der autonomen Republik Tatarstan ein geographischer Begriff sein. Das Match Deutschland gegen Südkorea (0:2) mit dem Weltmeister Aus für Deutschland ist in dieser Stadt ausgetragen worden. Es ist von der Bevölkerungszahl mit knapp über 1 Mio. Einwohner die achtgrößte russische Stadt, von der kulturellen Bedeutung her reiht sich Kazan jedoch gleich hinter St. Petersburg und Moskau.

 

Das Nationale Sinfonieorchester der Republik Tatarstan wurde Mitte der sechziger Jahre gegründet. Es erlebt unter dem seit 2010 bestellten Chefdirigenten Alexander Sladkovsky seit geraumer Zeit eine Blüte, tritt vermehrt international auf (aus Anlass der Europatournee 2016 spielte das Orchester auch im Wiener Musikverein) und kann zumindest nach Abhören der neuen Shostakovich-Box sicher als eines der besten/interessantesten Orchester (Russlands) gelten. Das Orchester hat schon eine erfolgreiche Gesamtaufnahme von Shostakovich‘ Solokonzerten eingespielt, die 2017 beim russischen Label Melodiya erschienen ist.

 

 Ein musikalischer Chronist war dieser von den Zeitläuften getriebene Shostakovich, zuerst natürlich der Sowjetunion, wo er mit der Idee antrat, eine neue musikalische Sprache für das damals junge Regime zu kreieren. Dass es nicht friktionsfrei blieb, sein Verhältnis zur Staatsführung, lässt sich ganz klar an der Entwicklung des musikalischen Ausdrucks, der Stilmittel und Atmosphäre der 15 Symphonien ablesen. Generell atmen in seinen Werken die kollektiven kontradiktorischen Erfahrungen fast eines gesamten Jahrhunderts. Als kompositorisches Gegenprogramm etwa zu Bruckner, der einem einzigen Stil treu blieb, ist das Schaffen von Shostakovich nicht  nur von den bedienten Formen her extrem heterogen, einige Symphonien scheinen sogar Antithesen zu vorhergehenden zu sei (z.B. die zweite im Verhältnis zur ersten).

 

Alexander Sladkovsky und das Nationale Sinfonieorchester Tatarstan  sind keine jungen Wilden wie ihre Kollegen aus Perm, wo Teodor Currentzis und seine MusicAeterna auf mit einem Furor der Begeisterung aufgenommene interpretatorische Exzentrizitäten abonniert sind. Sladkovsky hat das Orchester auf traditionelle Art und Weise ebenfalls mit einer verjüngten Truppe und hoher Disziplin in – auch im internationalen Vergleich – Höchstform gebracht. Seine Interpretationen des symphonischen Universums Shostakovich‘ geben der Seite der absoluten Musik und ihrer kompositorischen Qualität Vorrang vor programmatisch motivierten Klangexzessen. Gustav Mahler ist nicht nur Shostakovich großes Vorbild gewesen, auch die Neueinspielung profitiert im Ansatz von dessen auratischer Klangsprache. So können das Groteske, die überschäumende Ekstase, hinter der sich Melancholie verbirgt, das Brutale, die Trauer, das Vorbeihuschende und Sanfte, alle die Ausdrucksfacetten der Musik in eine Balance gebracht werden, ohne nicht auf ein Maximum an Details, etwa bei den Bläsern oder im Schlagzeug, verzichten zu müssen.

 

Die in der Saydashev Konzerthalle beschäftigten Toningenieure von Melodiya haben ganze Arbeit geleistet. Die Aufnahmequalität ist stupend, von der Brillanz des Blechs bis hin zu einer beeindruckenden räumlichen Tiefenstaffelung. Dabei sind die Aufnahmen in Rekordzeit im August entstanden, wie berichtet wird, ohne Klimaanlage, denn das hätte den Klang womöglich „verschmiert.“ Die Solisten Natalia Muradymova und Piotr Migunov, aber auch der große Chor „Masters of Choral Singing“ macheneinen guten Job. Fazit: Insgesamt ist dieser Zyklus, der in einer graphisch attraktiven Box steckt,  äußerst empfehlenswert.

 

Anmerkung: Das Orchester verbindet sein künstlerisches Wirken mit einem ungewöhnlichen pädagogischen Engagement. Es ist nicht nur im Konzertsaal anzutreffen, sondern kommt zu den Leuten in die Fabrik oder die Schule. Alexander Sladkovsky ist darüber hinaus Gründer und künstlerischer Leiter  mehrerer Festivals in Kazan, die er mit den Nationalen Sinfonieorchester Tatarstan bestreitet: das Rachmaninow Festival „Weißer Flieder“, das Open-Air-Opernfestival „Kasan Herbst“, das „Denis Matsuev Meets Friends“ Festival und das Gubaidulina-Festival „Concordia“.

 

 Dr. Ingobert Waltenberger

 

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