Dieter Dorn
SPIELT WEITER!
Mein Leben für das Theater. Autobiographie
430 Seiten, C.H.Beck Verlag, 2013
Dieter Dorn, der gebürtige Sachse, hat über Jahrzehnte hinweg das Theaterleben Deutschlands mitgeprägt, zumal in seiner Wahlheimatstadt München als Intendant der beiden wichtigsten Institutionen, der Kammerspiele und des Residenztheaters. Er war allerdings kein Mann, der sich selbst – wie viele seiner Kollegen es tun – eitel in den Mittelpunkt gerückt hätte, was, wie er sinniert, vielleicht ein Fehler war. Doch er kommt in seinem autobiographischen Buch „Spielt weiter!“ zu der richtigen Erkenntnis, dass keiner aus seiner Haut heraus kann. Und wie viel er ohne den Hang zur Selbstdarstellung seiner Person geleistet hat, das ist nun hochinteressant nachzulesen.
„Spielt weiter!“ unter dem mehr als berechtigten Untertitel „Mein Leben für das Theater“ ist auch absolut kein eitles Buch, vielmehr ein kluges, das die künstlerischen Erfahrungen eines Lebens auf allen Ebenen weitergibt, ohne sich superintellektuell aufzuplustern. Man hat die gemessen-nüchterne Darstellung von teils aufregenden Ereignissen des deutschen Nachkriegs-Theaters vor sich. Aus diesem „gemeinsamen Spaziergang am Flussufer meines Theaterlebens“, wie Dorn formuliert, kann man viel lernen, wenn es auch genügend Episoden gibt, die ganz einfach des Lesers Bedürfnis nach Insider-Information (um nicht zu sagen: auch Klatsch) befriedigen…
Das „Arbeiter- und Bauernkind“, 1935 in Leipzig geboren, hieß eigentlich Erich, aber der zweite Name Dieter war von Anfang an sein Rufname (und „Dieter Dorn“ hat sich dann als prägender Theatername sehr gut gemacht). Durch interessierte Eltern mit Musik groß geworden und „in der Leipziger Kunstsuppe“ schwimmend, schmuggelte er sich durch die Hintertüre ins Theater – und verbrachte in der Folge dort sein Leben. Als man ihn an der Theaterhochschule als Schauspieler durchfallen ließ, fasste er den klügsten Entschluss seines Lebens: „Dann mache ich eben Regie.“
Dass in der DDR auf Theatergebiet viel zu lernen war, leugnet Dieter Dorn nicht, dass er dort nicht bleiben wollte, war er auch klar, und dass er die „Überfahrt“ in den Westen als 21jähriger mit „Brecht’scher List“ vollzog, ist amüsant. Auch von dem „Kulturschock“, den Westberlin bedeutete, und der Geschicklichkeit, mit der man sich als entschlossener junger Mann dort umtat, erzählt Dorn mit der Begabung eines halben Romanciers.
Seine „Karriere“ begann im Staatstheater Hannover, wo er 1958 seine erste Inszenierung machen durfte. Über einen Umweg beim Rundfunk, der nichts für ihn war, weil ihm das Theater fehlte, nochmals Hannover, Essen und Hamburg ging es nach Berlin, die seit 1961 eingemauerte und auf dem Theatersektor so aufregende Stadt. (Sehr interessant, wie Dorn die „politische Müdigkeit“ schildert, die ihn, als in der DDR überdoktriniert, erfasst hatte.)
Fünf Jahre bei Hans Lietzau am Schiller-Theater in harter Konkurrenz zur strahlenden, „politischen“ Schaubühne des Peter Stein – Lietzau eröffnete „sein“ Haus mit dem „Homburg“ mit Helmut Griem, während Stein den „Homburg“ mit Bruno Ganz spielte: Man stelle sich das einmal vor. Von den zehn Inszenierungen, die Dorn in Berlin machte, waren drei Stücke von Thomas Bernhard – und dennoch hat er den „Kampf“ um diesen Autor gegen Claus Peymann verloren, da macht sich Dorn nichts vor. Die beiden Kontrahenten, Kampfhähne, können erst in der Gegenwart, als „alte Herren“, einigermaßen friedlich miteinander umgehen…
Dorn beschönigt seine Auseinandersetzungen mit Lietzau so wenig wie vieles andere auch, und er weiß auch, dass es nicht ehrenvoll von ihm war, dessen beste Schauspieler mitzunehmen, als er nach München ging: Mit einer „gemischten Raubtiergruppe“ höchster Qualität trat er 1976 als Oberspielleiter in den Münchner Kammerspielen an, mit Schauspielern, die in den folgenden Jahrzehnten das Profil der Stadt bestimmten und die Dorn mit aller Sorgfalt pflegte und einsetzte (wie es heute im allgemeinen kaum noch üblich ist) – dafür verfügte er über ein Ensemble, das beispielhaft war. 1983/84 wurde er Intendant des Hauses, und für diese Münchner Jahre schildert Dieter Dorn seine wichtigsten Aufführungen als überaus einsichtige Entstehungsprozesse in Konzeptionen und darstellerische Profile. Dazu amüsante Ereignisse am Rande – als er etwa, ganz wie im „Raub der Sabinerinnen“ (!), von einem Repräsentanten der Stadt dessen Römerdrama (!) überreicht bekam, in der evidenten Hoffnung, es würde an den Kammerspielen aufgeführt. Dorn wand sich (immer wieder in Brecht’schem Sinn trickreich) aus der Situation…
Für Dorn bedeuteten die Kammerspiele nicht einen Tummelplatz seiner persönlichen Eitelkeit, er holte viele der bedeutendsten Regisseure der Epoche an sein Haus, weiß von Tabori über Wilson bis Achternbusch von diesen Persönlichkeiten zu erzählen. Er berichtet auch von Fehlentscheidungen – etwa als er Peter Zadek 1997 erlaubte, für die Inszenierung von „Richard III.“ in der Titelrolle Paulus Manker als Gast aus Wien mitzubringen. Manker, bekannt für sein provokant-unleidliches Wesen, brachte das Münchner Ensemble dermaßen durcheinander und in Rage, dass eines Abends Sibylle Canonica auf der Bühne ausrastete, ihm coram publico eine Ohrfeige verpasste und abrauschte…
Autoren waren für Dorn wichtig, nach Bernhard war sicher Botho Strauß einer der bedeutendsten in seiner Karriere, der ihn bis zum Ende seiner Münchner Karriere 2011 im Residenztheater begleitete. Dorn ist in seinem Zugang zu Werken (vor allem Klassikern, wenngleich er sie zu „Zeitstücken“ machte) möglicherweise als „konservativ“-bewahrend im besten Sinn zu begreifen, doch er war immer neuen Autoren gegenüber offen – Weiss, Kroetz, Müller, Dorst (der legendäre, sensationell besetzte „Merlin“ in zwei Teilen ist jedem unvergessen, der ihn gesehen hat). Bei Dorn haben auch Roland Schimmelpfennig, Theresia Walser und Marius von Mayenburg das Licht der Bühne erblickt.
Seinen Rausschmiss aus den Kammerspielen 2001 hat er nie so richtig begriffen – und es schien wie ein Wunder (was geht in den Politikerköpfen vor?), dass er wenig später mit seiner Mannschaft (er brachte 25 seiner Schauspieler mit) im Residenztheater antreten konnte, das er bis 2010/11 leitete – eine beispiellose Münchner Karriere. (Das Staatstheater bezeichnete er als „Fahrstuhl zum Schafott“, aber er hat es mit seinen Leuten überlebt.)
Dorns Buch ist eine Huldigung an viele Große, denen er begegnete, wobei die Schilderung durchaus differenziert ausfällt – Brecht und die Weigel, Lucie Höflich und Hilde Körber, das ist schon Theatergeschichte. Der Lebens-Schauspieler Helmut Griem und Bernhard Minetti, die für Dorn so unendlich wichtige Gisela Stein (deren Schicksal er ausführlich schildert) und Thomas Holtzmann, Cornelia Froboess (deren Eindrücke über Dieter Dorn sich in dem Buch finden so wie jene des exorbitant bedeutenden Rolf Boysen, weiters von Felix Rech und Jürgen Rose), Peter Lühr und Sunnyi Melles (die für Dorn auf die Dauer nicht zu zähmen war), Edgar Selge und Bruno Ganz und und und – wer nennt die Namen? Es sind die größten, die es in den letzten Jahrzehnten im deutschen Theater gab.
Immer wieder geht Dorn in seinem Buch grundsätzlichen Fragen des Berufs nach, den man umfassend als „Theater“ bezeichnen kann – was ist Begabung (ja, was? – er versucht zumindest die Definition)? Was ist das „Wunderwesen“ Schauspieler? Welche Arten von „spielen“ gibt es? Was kann im Lauf eines Theaterabends alles passieren? Welche Rolle muss die Musik in seinen Inszenierungen innehaben? Was bedeuten Kritiken?
Dorn hat Grundsätze: „Es ärgert mich, wenn Schauspieler mir gelogene Tränen schlecht vorspielen, das empfinde ich als Hohn.“ „Ein Schauspieler, der seine Rolle nur spielt, weil er einen Vertrag zu erfüllen hat, hat mich nie interessiert.“
Dieter Dorn heute ist der Mann, der mit seinem Alter Ego, dem von ihm nicht zu trennenden Ausstatter Jürgen Rose, für 2013/14 den „Ring des Nibelungen“ in Genf (Dirigent: Ingo Metzmacher) vorbereitet. Er hat immer wieder Oper inszeniert, an der New Yorker Met etwa einen so ausstattungsfernen „Tristan“, dass die Sponsoren der Produktion das Opernhaus in Millionenhöhe klagten, weil ihnen die Aufführung nicht gefallen hatte… Dorn hat noch andere Unglaublichkeiten des Theaterlebens auf Lager (etwa seine Zusammenarbeit mit Riccardo Muti bei den Salzburger Festspielen…), sie würzen sein Buch, das nie ernst-schwer, aber im Grunde doch sehr ernsthaft und gewissenhaft ist.
90 Schauspielinszenierungen, 16 Operninszenierungen (den „Ring“ noch nicht mitgerechnet), zwei Intendanzen, es ist eine reiche Bilanz. Dieter Dorn stand stets zu sich und seinen Überzeugungen. Er outet sich als Regisseur, für den das Dichterwort noch das Entscheidende ist, der jedes Stück nach dessen eigenen Gesetzen angeht, also keine persönliche „Masche“ über alles gießt oder sich selbst über die Werk setzen würde. Eine Haltung, die 2011, bei seinem Abschied, bereits relativ „unmodern“ ist… „Wir haben einen Autor, der uns führt“, war von seiner Jugend an sein Motto. Er selbst sei der „Gleisarbeiter“ – damit der Theaterabend eben zu etwas führe. Für den „eitlen Laden der Regisseure und Schauspieler“, zu dem das Theater heute verkommt, hat er nichts übrig, und dass man Paraphrasen auf ein Stück spielt anstatt dieses selbst, entzieht sich seiner Einsicht. Kollegen, die nur „ihre eigenen Obsessionen auf die Bühne bringen“, sind ihm fremd.
Es ist von Dorn überaus mutig, dergleichen so unverblümt auszusprechen, weil er damit dem Mainstream eines heute alles beherrschenden Trends (und der dazugehörigen Zustimmung des Feuilletons) widerspricht. Aber feige war Dieter Dorn, sein Leben zeigt es, nie.
Renate Wagner