Das Kunsthaus Zürich zeigt Marc Chagalls wegweisendes Frühwerk, 17.02.2013
von Ursula Wiegand
Eine zierliche, dunkellockige Frau neben Marc Chagalls „Erdbeeren“ fällt sofort auf. Sieht sie nicht dem jungen Chagall (1887-1985) verblüffend ähnlich? Tatsächlich. Es ist Meret Meyer, seine Enkelin.
Meret Meyer mit Chagalls Erdbeeren, 1916. Foto: Ursula Wiegand
„Bella und Ida am Tisch“, hat Chagall den „Erdbeeren“ (von 1916), hinzugefügt. Bella war seine erste Frau, und die kleine Ida ist Merets Mutter. Das Bild aus einer Privatsammlung bereichert die neue Ausstellung „Chagall, Meister der Moderne“ im Kunsthaus Zürich. Über 90 Werke, zumeist aus den entscheidenden Jahren 1911-1922, zeigen sein frühes Schaffen in Paris und dessen Fortsetzung 1914-22 in Russland.
Chagall, geboren in Witebsk (Weißrussland), zieht 1910 nach Paris, wo sich Europas Avantgarde versammelt. Während die Kollegen über die neuen Stile debattieren, studiert Chagall sie beim Gang durch die Galerien.
Der Kubismus und der farbstarke Fauvismus inspirieren ihn, ebenso die kreisförmig-bunten Bilder von Robert Delaunay. Für die erfindet der Dichter Guillaume Apollinaire, der Chagalls Freund wird, die Bezeichnung Orphismus.
Chagall, Hommage à Apollinaire, 1911-12. Foto: Ursula Wiegand
Chagall saugt das alles auf, doch er kopiert nicht. Seine dörfliche Heimat und das tief religiöse jüdische Elternhaus bleiben stets präsent. Viele Bilder verraten sein Heimweh und stimmen dennoch heiter.
Seine Geburtsszenen sind noch in traditionell dunklen Tönen gehalten. Als ältestes von 9 Kindern hat er davon wohl einiges miterlebt. Nun aber malt er farbfrische Akte und distanziert sich vom orthodoxen Judentum, das Menschenabbildungen untersagt.
Magdalen Künzi-Girsberger vor Akt im Garten. 1911. Foto: Ursula Wiegand
Eine zarte ältere Dame betrachtet seinen „Akt im Garten“ (1911). Es ist Magdalen Künzi-Girsberger. Sie hat Chagall kennengelernt, aber erst später. Als Kirchenvorstand im Fraumünster war sie ab 1968 eingebunden in die Verhandlungen über die Gestaltung der Chorfenster. Chagall, schon weltberühmt, trat bescheiden auf. „Er war ein ganz angenehmer, liebenswürdiger Mensch,“ schwärmt sie noch immer. „Seine Fenster müssen Sie sich unbedingt anschauen,“ empfiehlt sie lächelnd.
Das Pariser Licht hat ihm nach eigenen Worten die Freiheit geschenkt. Das knallrote „Meiner Braut gewidmet“ (1911) mit einem Bock, umschlungen von Frauenbeinen, wirkt wirklich sehr freizügig. Auch die Sehnsucht nach der geliebten, in Witebsk gebliebenen Bella sprengt bisherige Grenzen.
Chagall, Paris durch das Fenster gesehen, 1913. Foto: Ursula Wiegand
Chagall trägt nun eine östliche und eine westliche Welt in sich. Siehe den Januskopf auf dem 1913 entstandenen Bild „Paris durch das Fenster gesehen“. Doch er balanciert diesen Zwiespalt auf märchenhaft skurrile Weise aus und malt laut Apollinaire „surnaturel“. Hier stehen Häuschen und Personen Kopf, dort schweben Pferde, Kühe, Esel, Ziegenböcke, Hähne und losgelöste Häupter über die Leinwand. „Malerpoet“ nennt man ihn.
Chagall, Für Russland, für Esel und für andere, 1911. Foto: Ursula Wiegand
Mit Stift und Pinsel erzählt er seine Geschichten, lustige und melancholische. Was aber bedeuten sie? „Ich kenne meine Bilder nur zu gut. Sie sind ein Teil von mir, aber ich weiß nicht, wovon sie handeln,“ so Chagalls spätere Antwort.
Chagall, Der Viehhändler, 1912. Foto: Ursula Wiegand
Schlüsselwerke sind „Für Russland, für Esel und für andere“ (1911) sowie „Der Viehhändler“(1912) mit dem Thema Mensch und Tier. Auf dem erstgenannten Bild saugen Kälbchen und Menschlein gemeinsam am Kuheuter. In den Bauch des Zugtieres auf dem Viehhändler-Bild malt Chagalls schon den Fötus.
Chagall, Ich und das Dorf, 1911, aus dem MOMA New York. Foto: Ursula Wiegand
Noch exemplarischer erscheint Chagalls „Ich und das Dorf“ (1911), eine Leihgabe vom MoMA in New York, das auch den Katalog ziert. Der großäugige pastellfarbene Tierkopf und das grasgrüne Menschengesicht, offenkundig mit Chagalls Nase, halten Blickkontakt. Darunter ein Baum plus Blumenstrauß, oben ein Kirchlein und bunte Häuser. Einige kopfüber wie die vermutlich verliebte Bäuerin.
Chagall, Der Spaziergang, 1917-18, aus St. Petersburg. Foto Ursula Wiegand
Chagall, der so gerne Paare und Hochzeiten malt, lässt auch seine Bella beim „Spaziergang“ (1917/18) vor Glück abheben. Die beiden haben 1915 in Witebsk geheiratet, können aber nicht gen Frankreich ausreisen. Denn nach Chagalls erster Einzelausstellung 1914 in Berlin und seiner Weiterreise nach Witebsk bricht der Erste Weltkrieg aus, und Russland schließt die Grenzen.
Chagall, Das blaue Haus, 1920. Foto: Ursula Wiegand
In den Bildern „Der liegende Dichter“ (1915) und „Der Mondmaler“ (1916) träumt Chagall sich hinweg, möchte wie „Der Reisende“ (1914 und 1917) mit langen Schritten davonstürmen. Da das unmöglich ist, malt er Witebsks schiefe Häuser und schreibt an der Autobiografie „Mein Leben“.
Chagalls Bilder werden in Petrograd (St. Petersburg) ausgestellt, doch seine Begeisterung für die Oktober-Revolution ebbt schnell ab. Das Selbstbildnis „Mann mit verdrehtem Kopf“ (1919) kündet von seiner Verwirrung.
Chagall, Mann mit umgedrehtem Kopf, Selbstbildnis, 1919. Foto: Ursula Wiegand
Chagall zieht sich aus öffentlichen Ämtern zurück und malt 1920 in Moskau die „Einführung in das jüdische Theater“ sowie Dekorationen und Zirkusszenen, sämtlich Leihgaben der Staatlichen Tretjakow-Galerie Moskau. Den Geiger über den Dächern, den „Fiddler on the Roof“, nennt er „Die Musik“.
Chagall, Die Musik, 1920. Foto: Ursula Wiegand
Einige Bilder aus späterer Zeit komplettieren die großartige Ausstellung, so „Die roten Dächer“ (1957), über die der Maler traumverloren dahinschwebt.
Chagall, Die roten Dächer, 1957. Foto: Ursula Wiegand
Anders das Gemälde „Der Krieg“ (1964-1966). Es zeigt Feuer, Flucht, Verzweiflung und rechts oben Christus am Kreuz. Für Chagall steht Jesus für das Leiden der ganzen Welt. In diesem Sinne hat er – Juden- und Christentum verbindend – auch Kirchenfenster gestaltet, so die im Chor vom Fraumünster, geschaffen 1969/70. Danach hat er noch die Rosette bebildert.
Fraumünster, Chagalls Jakobsfenster, Ausschnitt, Versöhnung Jakobs mit Esau.
Foto: Ursula Wiegand
Beim überwiegend roten Prophetenfenster an der Nordseite des Chors schließt sich das blaue Jakobsfenster mit der Himmelsleiter und der Versöhnung Jakobs mit Esau an. Dem gelben Zion-Fenster rechts außen, Jerusalem als Hohe Stadt schildernd, folgt das blassblaue Gesetzesfenster an der Südwand.
Fraumünster, Chagalls Christusfenster, Kreuzigung + Chagall-Porträt. Foto: Ursula Wiegand
Das Zentrum gebührt dem Christusfenster in zuversichtlich-frühlingshaftem Grün. Unten steht Josef neben dem Baum des Lebens, darüber Maria mit dem Jesuskind, Weiter oben, nicht ganz mittig, hängt der Gekreuzigte. Pfarrer Niklaus Peter weist auf einen Kopf rechts neben Jesu Fuß. Es ist der von Chagall und sein Vermächtnis. – Ein Blick auf das 1945 von Augusto Giacometti geschaffene farbglühende Riesenfenster im Seitenschiff sollte jedoch auch nicht fehlen.
Zurück zu Chagall, dessen Spuren auch anderswo in Zürich zu finden sind. Mehrmals, u.a. während und nach der Arbeit an den Fraumünster-Fenstern, übernachtet er im piekfeinen „Hotel Baur au Lac“. Als freundlicher Mensch hinterlässt er dort Widmungen im Gästebuch.
Chagall-Eintrag 1979, Gästebuch Hotel Baur au Lac, Foto: Ursula Wiegand
Ebenso macht er es in der legendären Kronenhalle. Der Eigner Gustav Zumsteg hatte ohnehin ein Faible für moderne Kunst und hat viele Werke von den noch kaum bekannten Künstlern erworben. Nun speisen dort Zürcher und Besucher unter Originalen von Chagall, Picasso, Miró und Bonnard.
Infos: Die Chagall-Ausstellung im Kunsthaus Zürich, Heimplatz 1, läuft bis 12. Mai und ist täglich geöffnet, und zwar Samstag – Dienstag von 10-18 Uhr, Mittwoch – Freitag und an Feiertagen von 10-20 Uhr. Eintritt inkl. Audioguide 22, erm. 17 Franken. Gratis für Kinder und Jugendliche bis 16 Jahren. Katalog: 48 Franken. Öff. Führungen auf Deutsch an bestimmten Tagen. Siehe unter www.kunsthaus.ch.
Vorverkauf mit Rabatt auf Anreise und Eintritt bei den Schweizer Bahnen unter www.sbb.ch. Auskünfte zu Zürich unter www.zuerich.com. Praktisch ist die ZürichCARD. Sie bietet die kostenlose Benutzung der öff. Verkehrsmittel, diverse Vergünstigungen und Museumseintritte. Auch im Kunsthaus Zürich, das noch weitere Chagall-Werke und Wunderbares von Alberto Giacometti besitzt. Die Chagall-Ausstellung ist jedoch kostenpflichtig. (U.W.)