Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

DARMSTADT/ Staatstheater: „DICHTERLIEBE“ (Christian Jost) als filmisches Musiktheaterprojekt.  Uraufführung

15.07.2020 | Oper

Dichterliebe | Staatstheater Darmstadt
Foto: Youtube

Darmstadt: „DICHTERLIEBE(Christian Jost) als filmisches Musiktheaterprojekt  UA 11.7.2020

 Zu den Theatern, die noch im Juni ihren Spielbetrieb wieder aufgenommen haben, zählt das Hessische Staatstheater Darmstadt. Im Interview mit der Regionalausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gab Intendant Karsten Wiegand Mitte Mai das Motto aus: „Wir schauen, was gerade geht“ und fügte den schönen Satz hinzu: „Wir sagen doch immer, das Theater handelt von Spontanität und Phantasie. Da können wir doch jetzt nicht sagen, wir hatten schon einen Spielplan und kriegen den Tanker nicht gewendet!“ Ein Resultat dieser Flexibilität war das Vorziehen einer erst für die Spielzeit 2020/21 geplanten Premiere. „Dichterliebe“ von Christian Jost (Jg. 1963) ist in musikalischer Hinsicht, um Wiegands Formulierung zu zitieren, eine „Übermalung (…) nach“ Robert Schumanns gleichnamigem Liederzyklus auf Gedichte von Heinrich Heine.. Die vorgesehene Besetzung mit neun Instrumentalisten und einer hohen Singstimme (Sopran oder Tenor) lässt sich im Großen Haus realisieren, ohne die aktuelle Corona-Kontakt- und Betriebsbeschränkungsverordnung des Landes Hessen und die Empfehlungen der gesetzlichen Unfallversicherung zu verletzen. Angegangen wurde „Dichterliebe“ allerdings als filmisches Musiktheaterprojekt – wobei nicht nur künstlerische Absichten, sondern auch die vagen Aussichten auf die Wiedereröffnung der Bühnen eine Rolle gespielt haben dürften. Eine reine Videofassung wurde schon am 20.6. und ist bis zum 31.12.2020 abrufbar unter der Internet-Adresse https://www.staatstheater-darmstadt.de/veranstaltungen/dichterliebe.738 .

Die szenische Uraufführung am 11.7. bedient sich der Bildspur des Films, während die Musik live dazu gespielt wird; der Dirigent Jan Croonenbroeck, aktuell Studienleiter am Staatstheater, trägt entsprechend Kopfhörer und sorgt mit Erfolg für akkurate Synchronisierung. Die Instrumentalbesetzung besteht aus einem Streichquartett, Klavier (im Wechsel mit Celesta), Harfe, Vibrafon (alternierend mit Marimbafon), Flöte und Klarinette. Die beiden Holzbläser sind durch eine Plexiglaswand nach vorne abgeschirmt, aber gut zu hören. Einmal werden passend zur Bildspur Schöpfgeräusche von Wasser über Lautsprecher eingeblendet. Der Gesangspart ist aufgeteilt auf mehrere Ensemblemitglieder, die wechselnd an zwei Notenpulten links und rechts zwischen den Instrumentalisten auftreten. Zu nennen sind Katrin Gerstenberger, Cathrin Lange, Karola Sophia Schmid (alle Sopran), Lena Sutor-Weinrich (Alt), David Lee und Michael Pegher (Tenor), David Pichlmaier (Bariton) und Johannes Seokhoon Moon (Bass). Einen Aushang oder Besetzungszettel gibt es nicht, und das Programmheft muss man sich selbst aus dem Internet herunterladen. Im Zuschauerraum ist gemäß den Hygienevorschriften jede zweite Reihe gesperrt; das verbliebene, vorwiegend ältere  Publikum sitzt auf Abstand; es herrscht eine wache, konzentrierte Atmosphäre.

Es nicht leicht, sich bei bewegten Bildern auf den Klang zu konzentrieren; im Normalfall wird das Auge vom Ohr dominiert. Das Regieteam des Films (Franziska Angerer, Regie, Fabio Stoll, Bildgestaltung, und Carolin Müller-Dohle, Dramaturgie) wirkt dem durch eine ausgesprochen ruhige Kameraführung und langsame Bildwechsel entgegen; außerdem erscheinen auf dem in der Mitte senkrecht geteilten Bildschirm in einem weißen Kubus oft einzelne, gerade aktive Instrumentalisten. Es dürfte also eher an Josts kompositorischem Konzept liegen, wenn im Nachhinein kaum einzelne Lieder im Gedächtnis bleiben, sondern eher ein Gesamteindruck. Jost selbst formuliert den Unterschied zur Vorlage so: „Ist bei Schumann jedes Lied für sich abgeschlossen, erscheinen die sechzehn Lieder in meinem Werk wie Inseln, die organisch in eine große, neu angelegte Komposition eingewebt sind. Grundlage meiner Komposition sind Schumanns Harmonien und Melodien, welche die Keimzellen meines Klangstroms bilden. Die Liedtexte Heines bleiben komplett erhalten, wie auch die Gesangslinien Schumanns, obgleich Textstellen wiederholt werden bzw. neue Schwerpunkte erhalten. Dabei bleibt alles im Fluss, einem klanglichen Strom des Unbewussten.“

 Es lässt sich also durchaus ein Unterschied feststellen zu Hans Zenders Verfahren der „komponierten Interpretation“, das vor allem durch seine Bearbeitung von Franz Schuberts „Winterreise“ bekannt geworden ist. Während Zender Schuberts Musik ins Licht rückt und sie verschieden beleuchtet, lässt Jost Schumanns Komposition in den Hintergrund treten: Nur selten hört man den originalen Klaviersatz oder dessen Instrumentation, und die Singstimme ist ein Element unter vielen in einem instrumentalen Gewebe, das sich zwischen den Liedern ausgedehnt weiterzieht. Ohne langatmig zu wirken, lebt die sehr reizvoll instrumentierte Musik doch stark von kurzen, sich reihenden und wiederholenden Einzelelementen, die an Pattern in Jazz-, Rock- oder Barockmusik denken lassen. Letztlich erinnert der Duktus an ein barockes Oratorium, an eine Messe oder ein Requiem. Und tatsächlich kann man diese „Dichterliebe“ , wie Sybill Mahlke im Berliner „Tagesspiegel“ geschrieben hat, als „Lamento“ des Komponisten um seine früh verstorbene Ehefrau, die bedeutende Sängerin Stella Doufexis (1968-2015), verstehen. An die Stelle eines Abgesangs auf eine verlorene Liebe tritt hier eine differenziert auskomponierte Trauer. Für die vitale Ironie und auch Selbst-Ironie, mit der Heine und auch Schumann „die Ku­lis­sen­welt der schö­nen ro­man­ti­schen Ge­füh­le“ (eine schöne Formulierung des Heine-Experten Bernd Kortländer) angehen, bleibt da kein Raum mehr. Die sich gegenseitig relativierenden Kontraste zwischen den Liedern sind eingeebnet, und pointierte Stücke wie „Ich grolle nicht“, „Ein Jüngling liebt ein Mädchen“, „Aus alten Märchen winkt es“ oder „Die alten bösen Lieder“ wirken nun seltsam entfernt und von Schwermut überzogen.

Es gibt einen kurzen Moment direkter Ironie in der filmische Umsetzung. Da schaufelt die Sängerin Katrin Gerstenberger am Waldrand eine Grube und legt sich hinein wie in ein Grab; doch wenig später sehen wir sie fröhlich einen Apfelbaum hineinpflanzen. Es ist dies eine Schlüsselszene für den Versuch der Regie, etwas vom Geist dieser Corona-Monate einzufangen, aber zugleich über den Trauergestus der Musik hinauszugehen. Filmisch lassen sich außer dem Fokus auf die Musiker drei inhaltliche und visuelle Dimensionen beschreiben, die sich mitunter überschneiden. Die erste ist die Einsamkeit: Wir sehen die Sängerinnen und Sänger jede(n) als stille Person für sich allein, bewegt oder unbewegt, draußen in der Natur oder in eben jenen leeren weißen Kuben, in denen auch die Instrumentalisten zu sehen waren. Vorbild dieser Räume sind die bekannten Bilder des US-amerikanischen Malers Edward Hopper (1882-1967) von einsamen Menschen, auf die im März der US-Autor Michael Tisserand mit der auf die Kontaktsperre gemünzten Bemerkung hingewiesen hatte „Wir sind jetzt alle Edward-Hopper-Figuren.“ Eine zweite Dimension ist die Selbstbespiegelung, die sich im buchstäblichen Blick in den Spiegel, beim Schminken, im autoaggressiven Verwischen der Schminke (eindrucksvoll: Lena Sutor-Weinrich) und bei der Selbstreinigung im fließenden Wasser zeigt. Das Programmheft zitiert dazu Eva Illouz‘ Buch „Warum Liebe wehtut“ (2011) mit den Sätzen: „Die Qualen der Liebe verweisen jetzt nur noch auf das Selbst, auf seine private Geschichte und seine Fähigkeit, sich selbst zu gestalten.“ Das passt genau auf unser gegenwärtiges Zeitalter des Narzissmus, ist aber von Heine und Schumann schon recht weit entfernt.

Die dritte und für Franziska Angerer wichtigste Dimension ist die Begegnung mit der Natur, durch die sie Einsamkeit und Selbstbespiegelung überwinden will. Das Programmheft spricht von einer „Suchbewegung nach einem Liebesbegriff, der ein unbedingtes Anerkennen der Abhängigkeit von der gesamten Umwelt bedeutet.“ Wir sehen mehrfach David Lee, wie er im weißen Kubus eine Ananaspflanze liebkost. Doch die meisten Bilder führen in den Wald oder an den Waldrand und bedienen damit zunächst eine romantische Sehnsucht, über die sich Heinrich Heine im Lied „Aus alten Märchen“ schon lustig gemacht hat.  Ein Sonnenaufgang zwischen hochgewachsenen Fichten entspricht wohl noch diesen Erwartungen; irritierender sind da schon schon das gierige Verschlingen und teilweise Ausspeien eines Apfels oder das nackte Sich-Suhlen in schlammigem Waldboden. Zum letzten Lied wird in beschleunigtem Tempo die allmähliche Zersetzung eines Apfelrestes durch die verschiedensten Organismen des Waldes gezeigt. Die Übertitelung zeigt hier nicht mehr den Liedtext, sondern erklärt zunächst den Zersetzungsprozess des Apfels und dann in Analogie auch den einer menschlichen Leiche. „Wir sind nichts weiter als Kompost“, zitiert das Programmheft die  US-Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway (Jg. 1944), die sich übrigens durchaus ernsthaft um eine tragfähige ökologische Ethik für die Zukunft bemüht.

Das ist natürlich ganz weit weg von Heine, der im letzten Lied seine unglückliche Liebe in einem großen Sarg begraben will und zur Illustration von dessen Größe rheinische Kulturdenkmäler herbeizitiert: Das Heidelberger Fass, die Mainzer Rheinbrücke und den Kölner Dom. Vom Wald ist nicht die Rede. Aber wir dürfen darüber die Stadt Darmstadt nicht vergessen: Der gesamte östliche Stadtrand ist von den waldreichen Ausläufern des Odenwaldes und des Messeler Hügellandes geprägt; man geht oder läuft oder radelt hier tatsächlich in und durch den Wald – und verteidigt ihn auch schon seit Jahrzehnten gegen die Planung einer östlichen Umgehungsstraße. (So schon vor einem halben Jahrhundert die Großmutter des Rezensenten mit Mitte 70.) Und im „Bioversum“ im ehemaligen Jagdschloss Kranichstein kann man sich ausführlich über biologische Vielfalt im allgemeinen und gelingende Zersetzungsprozesse im besonderen informieren. Nicht auszudenken, man hätte den Film 40 km weiter in Mainz am Rhein gedreht: Da wären die Protagonisten wohl oder übel in den rheinhessischen Weinbergen gelandet, hätten sich leichtsinnig dem Tröster Alkohol ergeben oder freche Reden geschwungen!Und dann galt und gilt Darmstadt seit den berühmten „Kranichsteiner Musiktagen“ als  Hochburg der Neuen Musik. Diese verstand lange auch keinen Spaß, ehe umstrittene Geister wie John Cage oder Mauricio Kagel ein wenig Ironie in das ernste Treiben brachten. So gesehen ist es nur folgerichtig, dass der Genius Loci Heine und Schumann erst neu komponiert und sie anschließend kompostiert.

Andreas Hauff

 

Diese Seite drucken