Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

D La Comédie Humaine – CHANSONS BALZACIENNES; Alpha. Von den Anfängen des frz. Chansons im frühen 19. Jahrhundert

18.12.2024 | cd

CD La Comédie Humaine – CHANSONS BALZACIENNES; Alpha

Von den Anfängen des frz. Chansons im frühen 19. Jahrhundert

cdf

Die große Romanreihe von Honoré de Balzac, deren Titel auf Dantes „Göttliche Komödie“ zurückgeht, ihren Sinn und Hintersinn als Motto des Albums zu wählen, ist vielleicht etwas vermessen. Es handelt sich nicht etwa um Musikstücke, die in der „Comédie humaine“ explizit erwähnt werden. Da wäre es ein gar kurzes Album geworden. Arnaud Marzorati, künstlerischer Leiter des Ensembles Les Lunaisiens und begeisterter Balzac-Leser, will mit dem von ihm programmierten Album mittels der ausgewählten Chansons Charakteristiken der ‚menschlichen Komödie‘ und damit der konservativ-monarchistischen Restauration aus dem Blickwinkel von Balzac hörbar machen.

Die Lieder sind gleichzeitig mit oder vor den Romanen/Erzählungen Balzacs entstanden, manche weisen eine vage Querverbindung zum Schaffen Balzacs auf. Hier wäre Marc-Antoine-Madeleine Désaugiers „Cadet buteeux au Faubourg du Temple“ zu nennen. Es soll in einem Brief Balzacs an seine Schwestern aus dem Jahr 1819 Erwähnung finden. Im Roman „Illusions perdues“ wird von Lousteau Béranger erwähnt, weil er ein Monopol auf das Chanson hätte.

Diese frühen „Songwriter“, die Dichter, Sänger und Komponisten zugleich waren, Désaugier wie Pierre-Jean de Béranger stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Albums. Désaugier, Vaudevilliste und Chansonnier, kommt mit dem ersten und letzten Chanson zu Ehren: „Tableau de Paris á cinq heures du matin“ sowie „Tableau de Paris á cinq heures du soir“ rahmen das Album, in dem alle mögliche Facetten des gesellschaftlichen Lebens und Strebens mehr oder weniger satirisch aufs Korn genommen werden. Reizvoll ist bei den Zuschreibungen der Beschäftigungen der Pariser und Patientinnen des Morgens, des Tags und des Abends besonders, dass der Refrain vom Ensemble gesungen wird, die Strophen hingegen solistisch.

Dieses volkstümliche musikalische Leben muss man sich so vorstellen: Da gab es etwa die Gruppe Caveau, deren Präsident Désaugiers war. Man traf sich jeden Monat, um sich an Tafelfreuden zu ergötzen und gemeinsam Lieder zu singen. Eine Fülle an menschlichen Eigenschaften, oder sollen wir eher sagen Schwächen und Eitelkeiten, fand Eingang in deren Texte und Musik.  

Einen ähnlichen Zweck wie die Caveau-Anhänger verfolgen die sogenannten Goguettes, eine Art von Gesangsverein, die sich vor allem in den Cabarets von Paris trafen und deren Höhepunkt auf das Jahrzehnt zwischen 1820 und 1830 fiel. Die unterhaltsame Singerei gab darüber hinaus Anlass für Geselligkeit und den einen oder anderen Umtrunk, wie das heute noch bei Chören – natürlich nicht auf Frankreich beschränkt – vorkommen soll.

Der bekannteste Vertreter unter den Goguettiers war Émile Debraux, der auf dem Album mit den Chansons „Les Relieurs“ (=Der Buchbinder) und „Les Chapeaux“ zu Wort und Ton kommt. Zu dem Genre „Literatur und Buch“ passt das Lied „Le livre“ von Pierre Dupont, auch er ein Balzac-Leser und beliebter Poète-Chansonnier, in dem der Ich-Erzähler seine Freundin beim Lesen beobachtet und im Refrain mutmaßt, ob das „liebliche Buch, dass sie berauscht und ihr so viel Rührung entlockt“, von ihm spräche? In seinem populärsten Einfall „Les Louis d’or“ geht es um den Teufel und seine pekuniären Verlockungen, um Gier und den Preis, der dafür zu zahlen ist.

„La Chanson de Winter“ von Eugène-François Vidocq zollt Tribut an die halbseidenen Abenteurer, die nach Paris kamen, halb Gauner, halb Filous, und mit Charme, Betrügereien und Schwindeleien ihr Glück machten.

Béranger war der bedeutendste unter all den präsentierten Autoren und Sängern. Er weitete die Gattung auf alle Themen und „Tonarten“, von sozialkritisch bis mythisch. Er war derjenige, dessen Melodien auf den Straßen und in allen Vierteln gesungen und gepfiffen wurden. Er war derjenige, den alle kannten, während Balzac in seiner Stube saß und an seiner Comédie feilte.

Vorgetragen werden diese extrem textbezogenen Chansons wortgewaltig, deftig und verwegen. In der Mehrzahl sind sie als freche Strophenlieder mit Refrain konzipiert. Lucile Richardot (Mezzosopran), der hinreißende Cyrille Dubois (Haute-Contre), beide auch als formidable Interpreten der französischen Barockoper bekannt, der unübertreffliche Stilist Arnaud Marzorati (Bariton) und der stimmpechschwarze Jérôme Varnier (Bass) nehmen sich dieser Preziosen mit Passion, wohl dosierter Drastik, Raffinesse und unwiderstehlichem Charme an.

Begleitet werden sie überwiegend von nur einem Instrument aus dem Ensemble Lunaisiens, das sich aus Christian Laborie (Klarinette), Christophe Tellart (Drehleier), Patrick Wibart (Serpent, Ophikleide), Étienne Galletier (Gitarre) und Daniel Isoir (Piano Pleyel ‚Petit Patron‘) zusammensetzt. Die Begleitung beschränkt sich oft auf ein paar Akkorde oder köstliche lautmalerische Kommentare, minimalistisch und ungemein modern zugleich.

Faszinierend und heiter klingt, was Marzorati unter dem Kennwort „Chansons balzaciennes“ zusammengetragen hat. Die Wurzeln des französischen Chansons, wie wir es kennen, sind klar auszumachen und auch manch Couplet aus Jacques Offenbachs Operetten dürfte den Ausgangspunkt in dieser Art von populärer Musik gefunden haben. Ein Name taucht hier auf, den wohl alle die französisch romantische Oper schätzende Melomanen kennen dürften: Daniel-François-Esprit Auber, dessen Lied „Amour et Folié“ Liebesturbulenzen eines Paars auf einem Ball thematisiert, weil der gar nicht galante Ernest die Verlobte ohne ein Wort einfach in ihrem Elend sitzen lässt.

Allerdings gibt es ein „seul bémol“: Für alle, die im Französischen oder Englischen, den einzigen Sprachen im Booklet und den abgedruckten Texten, nicht fit sind, stellt das vor Probleme, denn ohne die Poesie zu verstehen, beschert das Zuhören nur das halbe Vergnügen. Allerdings ist das ein genereller Zug der Zeit, dass die deutsche Sprache immer weniger in Begleittexten von Tonträgern vorkommt. Und nicht nur das: Berlin etwa ist, überspitzt gesagt, eine englischsprachige Stadt geworden. In vielen jungen Betrieben, Start-ups, Theatern, Restaurants, Bars und Bäckereien versteht das Personal kein Wort Deutsch mehr und verlangt von der Kundschaft in einer oft frechen Selbstverständlichkeit, dass der Kunde gefälligst Englisch sprechen soll. Finde ich nicht in Ordnung.

Abgesehen von der Sprachbarriere für den deutschsprachigen Markt ist dieses Album höchst amüsant und empfehlenswert.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

Diese Seite drucken