CITTÀ DI CASTELLO (Umbrien)/ FESTIVAL DELLE NAZIONI : OMAGGIO ALLA NORVEGIA (Hommage an Norwegen)
vom 20. 8. bis 18.9.2021
Città di Castello ist eine mittelgroße Stadt in Umbrien. Sie weist keine besonderen Sehenswürdigkeiten auf (das einzige bedeutende Gemälde, die Madonna von Raffaello Sanzio, wurde von den Franzosen gestohlen), hat aber eine äusserst angenehme, tiefenentspannte, unaufgeregte Provinz-Atmosphäre. Die Männer stehen auf der Piazza in Kleingrüppchen zusammen, um Politik und Sport zu besprechen, alle fahren mit dem Fahrrad, alle kennen und grüssen einander und man isst und trinkt ganz hervorragend (Trüffelgegend !). Kurzum, es ist ein reines Vergnügen, einige Tage in ihren (noch bestehenden) Mauern zu weilen – zumal man keinen Stress hat, irgendwelche Must-See-Listen abarbeiten zu müssen.
Darüber hinaus findet in Città di Castello seit nunmehr 54 Jahren das international renommierte Klassikmusikfestival „Festival delle Nazioni“ statt. Es hat ein so einfaches Prinzip, dass man sich wundert, dass es andere Festivals nicht schon längst übernommen haben: jede Edition ist schlicht und einfach einer anderen Nation (daher der Name) gewidmet. Nach zB. Russland, Spanien, Österreich und Israel war dies heuer Norwegen.
Und das ist nun wirklich verdienstvoll. Denn, Hand aufs Herz, wer – selbst von uns Musikverliebten – kennt denn vom Land an den Fjorden musikalisch mehr als Edvard Grieg (und selbst von ihm fast nur die Peer-Gynt-Suite)? Im Sommer-Nachhilfekurs Norwegen durften wir in der umbrischen Stadt nicht nur erfahren, dass Grieg auch eine wunderbare Sonate für Violine und Klavier geschrieben hat, sondern auch, dass es einen noch berühmteren Komponisten als ihn gegeben hat, nämlich Ole Bull (ausgesprochen: Uhle Büll), der bis heute als Nationalheld verehrt wird. Seine Karriere begründete er als Teufelsgeiger (er konnte dank eines abgesägten Steges vierstimmig spielen) und wurde daher auch der „Paganini des Nordens“ genannt – und von seinen Zeitgenossen wie Franz Liszt, Robert Schumann oder Felix Mendelsson sehr verehrt. Er war aber eben auch als Komponist äußerst produktiv und erfolgreich.
Violinist u n d Komponist (und Dirigent) war auch Johan Halvorsen (1864 – 1935), der Griegs nationalromantischen Stil weiter entwickelte (und übrigens auch mit Griegs Nichte verheiratet war).
Von seiner Existenz hat der Unterzeichnete ehrlicherweise gar nichts gewusst, ebensowenig wie von der Johan Svendsens (1840 – 1911).
Henning Kraggerud und Håvard Gimse spielen Musik ihrer Landsleute. Copyright: FESTIVAL DELLE NAZIONI
Von allen drei letztgenannten erklangen Werke bei einem der Höhepunkte des Festivals, dem festlichen Konzert in der (aufgelassenen, aber wunderschönen) Chiesa di San Domenico. Dargeboten wurden die unseren Ohren vollkommenen unbekannten Kompositionen passenderweise von zwei Norwegern – dem Pianisten Håvard Gimse und dem Geiger Henning Kraggerud. Ein Urteil über die Qualität der Tonschöpfungen würde ich mir nach dem ersten Anhören nicht erlauben wollen – aber vielleicht bietet sich ja noch irgendwo irgendwann irgendwie die Möglichkeit einer abermaligen Begegnung.
Der norwegische Liederabend „Skandinavische Romanzen“. Copyright: FESTIVAL DELLE NAZIONI
Das kritische Urteil suspendieren möchte ich auch im Hinblick auf den zweiten hochinteressanten Abend mit dem schönen Titel Romanze Scandinave (Skandinavische Romanzen). Wir hörten Lieder von Wilhelm Peterson-Berger, Wilhelm Stenhammar, Hannes Alfvén, Emil Sjögren, Ture Rangström, Bo Linde, Lars-Erik Larsson und Carl Leopold Sjöberg (never heard of them). Die Texte stammten von Erik Axel Karlfeldt, A.T. Gellerstedt, Ernest Thiel, Tor Hedberg, Johan Ludvig Runeberg, Bo Bergman, E.Blomberg, Hjalmar Gullberg, Erik Gustaf Geijer und Tove Ditlevsen (totale Fehlanzeige auch bei diesen Namen). In diesem Fall hatten sich diesem musikalischen und literarischen Neuland in dankenswerter Weise ausschließlich einheimische Kräfte angenommen: Enrico Paci, Klara Luznik, Cristina Tirigalli, Veronica Marinelli und Davide Francisconi.
Unnötig cooles Sound – Light – und Textdesign: Copyright: FESTIVAL DELLE NAZIONI
Mit meinem (vernichtenden) Urteil nicht hintanhalten möchte ich jedoch, was ein drittes Projekt mit dem bereits ziemlich parfümierten Titel „Norvegia, Spazi dell‘ Anima“ (Norwegen, Räume der Seele) anlangt. Im cringy-mässigen Bemühen, cool und zeitgeistig zu erscheinen, hatte die Festivalleitung den „performativen“, „multimedialen“,“Sound Designer“, “ Sound Artisten“ und „Live-Elektronik-Musiker“ Michele Mandrelli (sein Name sei vergessen!) dazu eingeladen, irgendetwas Hochgestochenes zum Thema Norwegische Natur zusammenzubasteln und zu improvisieren. Sozusagen auch als „Untermalung“ (oder „Übermalung“?) von Texten von Erik Fosnes Hansen, Neil Gaiman und Ludvig Holberg, die von ein paar wie so oft faulen italienischen Schauspielern hölzern und pathetisch von den Lesepulten buchstäblich herunterbuchstabiert wurden.
Der Ort (das ehemalige Kloster der Santa Chiara im Nachbarort Sanspolcro) war sehr schön, der Rest der Veranstaltung jedoch ein einziges Ärgernis: ein unnötiger, prätentiöser, auf norwegisch tuender Vollschmarren.
Thor sei Dank hatten wir in den Tagen davor genug bereichernde musikalische norwegische Erlebnisse gehabt, um diesen anmaßenden Abend locker wegstecken zu können…
Robert Quitta, Città di Castello