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CHEMNITZ: DER RING DES NIBELUNGEN

Zur „weiblichen Sicht“ auf den „Ring“

30.04.2019 | Oper

CHEMNITZ: DER RING DES NIBELUNGEN 18.-22. April 2019

 Zur „weiblichen Sicht“ auf den „Ring“

 Bekanntlich hat die Oper Chemnitz 2018, also im Laufe nur eines Jahres, die gesamte Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner auf die Bühne gestellt. Das ist für ein Haus solcher Größe eine nahezu unglaubliche Leistung, die kaum von großen A-Häusern erbracht wird. Zudem blickt man hier auf einen sehr erfolgreichen „Ring“ zurück, der auch von der internationalen Presse vielfach gelobt wurde. Nun entschied man sich, einen „weiblichen Blick“ auf den „Ring“ zu werfen – was immer das heißen mag – und nahm gleich vier Regisseurinnen für die vier Stücke unter Vertrag.

Genau das schwebte Katharina Wagner ja ursprünglich auch für den neuen Bayreuther „Ring“ 2020 vor. Mit Wotan könnte man in Chemnitz also immerhin schon sagen: „Heut‘ hast Du’s erlebt“. In Bayreuth 20 scheint es aber doch wenigstens eine Frau zu werden, Tatiana Gürbaca, die erste überhaupt für den „Ring“ auf dem Grünen Hügel. Was diese allerdings im Frühjahr 2018 mit einem dreiteiligen Verschnitt der Tetralogie „aus der Sicht der zweiten Generation“ am Theater an der Wien anstellte, war nicht unbedingt beglückend. Francesca Zambello ging es mit ihrem „amerikanischen „Ring“ in San Francisco vor einigen Jahren überhaupt nicht um spezifisch weibliche Sichtweisen, sondern eher um das Kopieren von Ideen europäischer Männer-Produktionen. Auch Rosamund Gilmore beabsichtigte mit einer guten Inszenierung in Leipzig in jüngster Vergangenheit scheinbar keine spezifisch weibliche Sicht. Die Neuproduktion von Jasmin Solfaghari in Odense 2018 enthielt im Finale der „Götterdämmerung“ etwas in dieser Hinsicht, aber dazu später. Im Mai wird eine Regisseurin in Bordeaux „Die Walküre“ in Szene setzen, und es gibt sicher einige Regisseurinnen mehr, die in den Startlöchern stehen. Eine signifikante Zunahme von Regisseurinnen, die sich nun Wagners „Ring“ annehmen, ist also unverkennbar. Worin könnte sich also eine spezifisch weibliche Sicht auf den „Ring“ darstellen, wenn man das ausdrücklich für eine Neuinszenierung postuliert, wie nun in Chemnitz?!


„Das Rheingold“. Guibee Yang (Woglinde), Sophia Maeno (Floßhilde). Foto: Kirsten Nijhof

„Das Rheingold“ übernahm die junge Regisseurin Verena Stoiber aus der Karlsruhe-Truppe um Peter Spuhler mit ihrer Bühnen- und Kostümbildnerin Sophia Schneider, dramaturgischer Betreuung von Carla Neppl und der Lichtgestaltung von Holger Reinke. Ich dachte zunächst, Stoiber stamme aus der Schule von Frank Castorf, der ja nach eigener Überzeugung seinen Bayreuther „Ring“ gegen die Musik inszenierte. Dann wurde klar, dass sie bei Calixto Bieito undJossi Wieler in Stuttgart assistiert hatte. So erschloss sich dann doch einiges ihrer trash-artigen und musikalisch ähnlich wie bei Castorf vorgehenden „Rheingold“-Produktion. Es ist eine weitgehend grelle Inszenierung, die streckenweise den Zaunpfahl über tatsächliches oder vermeintliches Fehlverhalten unserer natürlich exklusiv als oberflächlich und gedankenlos gezeichneten Gesellschaft schwingt. Wieder einmal ein Versuch, dem Stück mit den Mitteln des sog. Wagnerschen Regietheaters beizukommen, das Theater mit einer ausgefallenen Regie also klar über den musikalischen Teil des Werkes zu stellen. Da gibt es Selfies en masse, selbst mehrere von Wotan mit Fasolt, der ihm als spießiger Bürokrat daraufhin die Leviten zur Vertragseinhaltung liest. Alberich, der wie ein priapismusverdächtiger vertrottelter alter Rübezahl mit Dauererektion daher kommt, holt sich das Gold mit den güldenen Perücken der Rheintöchter und zieht ein Bordell mit feschen Bikini-Mädchen auf. Diese bieten für einen wirklich konkurrenzlosen Flat-Tarif von € 9,99 Sex an, während im unteren Stockwerk des Aluminiumgehäuses die Nibelungen billige Turnschuhe mit Schnürsenkeln versehen. Das „Gold“ stellt sich später als ein Haufen leerer Pappkartons dar, die wohl nach dem hastigen Entleeren eines ostasiatischen Schiffskontainers mit dem entsprechenden Billiggut wie TV Screens, Haushaltsgeräten, Damenbekleidung etc. übrig geblieben waren. Natürlich können mittlerweile als poststereotyp zu bezeichnende Inszenierungselemente wie der Putzeimer mit Bodenaufwischen ebenso wie das Outfit Donners und Frohs als Golfspieler und die weithin bekannte Bürokratiedemonstration des Walhall-Vertrags nicht fehlen. Die Akten werden aufgrund ihres Umfangs allerdings diesmal mit der Schubkarre herbeigefahren – das war neu! Fricka und Freia mustern bis zum Abwinken die von der Apfelgöttin mitgebrachten neuen Fetzen. Sollte das etwa spezifisch weiblich sein?!

Vieler, und bei weitem nicht aller Beispiele kurzer Sinn: Das passte meistens nicht zu Wagners Musik und schon gar nicht zur gesanglichen Aussage, ebenso wie die durchaus lebhafte, aber offenbar ohne Würdigung der dazu erklingenden musikalischen Botschaft, zumal der Leitmotive. Es führte trotz mancher guter Ideen, die aber selten schlüssig durchdramatisiert wurden, vielmehr zu einer oft fahrigen, ja bisweilen willkürlich anmutenden Dramaturgie, die sich zugunsten eines allzu aktuellen Stoffbezugs allzu leicht über Wagners Postulat des Gesamtkunstwerks hinwegsetzt und damit letztendlich aus dem Flachwasser regietheatralischer Inszenieungskonzepte nicht herauskommt. Ganz ohne Mythos geht es wohl aber in Wagners „Ring“ nicht, und den hat Stoiber wenige Male durchaus angesprochen, wenngleich diese Momente gegen die allgemeine Leichtfertigkeit  nicht ankamen. So wogen über den anmutig hereinschwingenden Rheintöchtern grüne Baumkronen als Natursymbolik. Und bei Erdas schicksalhaft vorgetragener Warnung kommt auch ein gealterter Wotan mit Augenbinde über die Bühne, der den „wagenden Gott“  warnt, den Wanderer schon vorweg nehmend. Auch sieht man in großen blauen Lettern das Wort „Love“, also Liebe, das die abgetakelten Rheintöchter im Schlussbild traurig in die Höhe halten – sicherein weiterer guter Punkt der Inszenierung.

Folgerichtig gehörte Bernadett Fodors mystischer Auftritt als Erda mit dunkel timbriertem vollem Mezzo auch zu den stärksten Momenten des Abends. Krisztán Cser war ein fescher, aber allzu oberflächlicher junger Gott im Businessanzug mit einem für den „Rheingold“-Wotan noch ausreichenden bassbaritonalen Volumen. Anne Schuldt sang mit einem klar intonierenden hellen Mezzo eine agile Fricka. Bernhard Berchtold war ein sehr aktiver und mit kräftigem tenoralen Ausdruck prägnant singender Loge, immer wieder auch zuerhöhter Deklamation neigend. Der altbewährteJukka Rasilainen war wie zu erwarten ein exzellenter Alberich, wenn auch nicht grade von Zwergengestalt. Er kennt seine Wagner Rollen in-und auswendig, natürlich auch den Wotan. Man merkte ihm die lange Erfahrung an. Magnus Piontek war eine voll tönender ausgezeichneter Fasolt, dem der alte Haudegen James Moellenhoff als Fafner stimmlich kaum nachstand. Reto Rosin als Mime, James EdgarKnight als Froh und Andreas Beinhauer als Donner gaben gute Kostproben ihres Könnens bei den kurzen Auftritten. Franziska Krötenheerdt spielte die Freia kindhaft und etwas zu albern mit hellem Sopran. Sylvia Rena Ziegler und Sophia Maeno sangen bestens als Wellgunde und Floßhilde, während die junge Koreanerin Guibee Yang mit der Woglinde etwas überfordert schien. Im „Siegfried“ wurde klar, dass der Waldvogel die passendere Partie für sie ist.


„Die Walküre“. Monika Bohinec (Fricka) und Aris Argiris (Wotan. Foto: Kirsten Nijhof

Monique Wagemakers, Regisseurin der „Walküre“, sagte in einem Interview mit dem Dramaturgen Lucas Reuter (Dramaturgie gemeinsam mit Susanne Holfter), dass sie nicht wisse, was das sei, der „weibliche Blick“. Sie habe bei ihrer Inszenierung des 1. Abends der Tetralogie aus „einem sehr starken Gefühl heraus gearbeitet“. Was der Unterschied zwischen einem „männlichen Blick“ und einem „weiblichen Blick“ sein soll, habe sie dabei nicht herausgefunden. Sie vermutet eine gewisse Tendenz, beispielsweise in der Beurteilung der Figur des Wotan, der bei Frauen wohl als arroganter Narziss gesehen werden könnte, bei Männern eher als positiv gescheiterter Held. Da ist möglicherweise was dran. Aber Wagemakers hat sich mit ihrer Bühnenbildnerin Claudia Weinhart, der sehr phantasie- und geschmackvollen Kostümbildnerin Erika Landertinger, sowie der Licht- und Videogestaltung von Mathias Klemm und Constanze Hundt von solchen Festlegungen nicht leiten lassen. Ihr „starkes Gefühl“ für das Stück hat sie offenbar ganz von selbst auf eine emotional intensive Lesart gebracht, wo Wagners Gesamtkunstwerk-Gedanke tatsächlich voll zum Tragen kommt. Hier stimmen Musik, Gesang und Bühnenbild stets überein und geben Wagemakers‘ Inszenierung große Fallhöhe. Im Vordergrund steht – wie bei Tatiana Gürbaca in Wien – die Perspektive der Kindergeneration und die Tatsache, dass Wotan seine Kinder Siegmund und Sieglinde sowie Brünnhilde nicht nur ausnutzt, um wieder an die absolute Macht zu gelangen, sondern sie dabei am Ende auch noch umbringt. Wagemakers sieht die „Walküre“ als Familientragödie, in der enge Beziehungen wachsen, wie zwischen Siegmund und Sieglinde, und gleich wieder zerstört werden. Das war ähnlich auch schon bei der „Walküre“ von Dietrich Hilsdorf 2009 in Essen zu erleben. Wagemakers bringt diese Zerrüttungen aber mit viel größerer Intensität und Plausibilität sowie einer ausgezeichneten Personenregie auf die Bühne als Tatiana Gürbaca 2018 in Wien. Dabei kommt ihr das Einheitsbühnenbild von Weinhart zugute, welches eine Art rechteckigen, aus Säulen und Bogen bestehenden Raum zeigt, welcher sofort an eine gotische Kirchenkrypta erinnert. Der Gedanke an Tod und Ende ist also schon in den Bildern manifest, die sich zudem aufgrund einer niemals übertrieben genutzten Drehbühne in immer neuen Konstellationen zeigen und damit sowie mit einer guten Lichtregie Stimmungen und Aussage der Szenen unterstreichen. Emotional besonders berührend sind die Momente, in denen Siegmund und Sieglinde sich selbst als Kinder wiedersehen, ein weiterer Verweis auf die Familiengeschichte der „Walküre“

Hier ging also fast alles zusammen, es wurde eine durchwegs eindrucksvolle „Walküre“ unter dem Vorzeichen der zerstörten Beziehungen von Wotan zu seinen Kindern und den Kindern untereinander, bis auf eine – m.E. schwerwiegende – Ausnahme: Die holländische Regisseurin zeigte kein Schwert! Da es für Siegmund und Sieglinde Hoffnung, Rettung und Vertrauen bedeutet, meint sie, dass man etwas anderes zeigen müsse als „das hilflose Hantieren mit einem großen Schaschlik-Spieß“. Und dieses andere war bei ihr ein schwarzer transparenter Vorhang, mit dem die beiden hantierten, um diese Tugenden auszudrücken. Dies erschloss sich ganz sicher nur dem, der das Programmheft las, und zwar vorher! Dass ein Vorhang ein Schwert ersetzt, ist kaum einleuchtend. Natürlich hat Wotan bei Wagemakers auch keinen Speer. Sollte hier vielleicht doch verborgen oder gar unbewusst ein „weiblicher Blick“ zu erkennen gewesen sein, dem sich gegebenenfalls auch als Phallus-Symbole zu interpretierende Requisiten wie Schwert und Speer verbieten?! Meines Erachtens wäre das schon aus Gründen der starken musikalischen  Akzentuierung dieser beide Requisiten nicht nachvollziehbar. Im Übrigen kommt das Schwert schon im „Rheingold“ vor, was von den meisten „Ring“-Regisseuren übersehen wird. Es war Teil des Nibelungenschatzes. Da es aber aus Eisen war und damit wertlos, hat Fafner es nicht mitgenommen. So konnte Wotan es ergreifen, als ihm der „große Gedanke“ kommt, einen Helden zu zeugen, der den Ring wieder gewänne. Dazu erklingt auch klipp und klar das Schwertmotiv am Ende des Vorabends. Bekanntlich stieß Wotan es später in die Weltesche in Hundings Hütte. Wie kann man so etwas inszenatorisch unterschlagen?!

Wagemakers und ihrem Team kam bei ihrer dennoch insgesamt gelungenen Inszenierung ein Sängerensemble zugute, welches sich manches große Haus nur wünschen könnte und diesen Abend zu einem Wagner-Gesangsfest machte. Dabei schließe ich ganz bewusst die Wiener Staatsoper mit ein, insbesondere mit Hinblick auf die Besetzung des Wotan, der mit der ebenfalls exzellenten Brünnhilde, die man hier hörte, ja zentralen Figur der „Walküre“.Und auch diese war absolut Wien-fähig! Der Grieche Aris Argiris spielte den Göttervater, der er hier ja nun mal ist, mit enormer Souveränität, jedem in seinem Umfeld einflößendem Respekt und einer typischen „Walküre“-Wotan-Stimme. Sein kerniger und alle Höhen und Tiefen der Rolle mühelos meisternder Bassbariton machte Argiris zum jederzeit äußerst präsenten und ruhenden Mittelpunkt dieses Abends. Stéfanie Müther stellte sich schon mit einem kraftvollen „Hojotoho“ vor und begeisterte in der Folge mit sehr agilem Spiel sowie einem klangvollen, schon über jugendliche Dramatik hinausgehenden Sopran bei guter Diktion und Phrasierung. Man könnte sagen, mit Fug und Recht, ein neuer Stern ist vom Brünnhilden-Himmel gefallen! Viktor Antipenko, den ich hier auch zum ersten Mal hörte, war ein kraftvoll intonierender und ebenso klangschöner Siegmund und legte auch das nötige Charisma dieser Rolle an den Tag. Seine Partnerin Astrid Kessler als Sieglinde passte ideal zu ihm und überzeugte mit einem hellen, ausdrucksstarken Sopran und sowieviel Empathie in der Rollendarstellung. Magnus Piontek spielte seine fast schwarzen Bassfarben für den Hunding voll aus. Anne Schuldt sang diesmal eine noch überzeugendere Fricka, die mit sich nicht scherzen ließ. Auch alle acht Walküren waren jeden großen Hauses würdig. Entsprechend wurde dieses erstklassige Sängerensemble auch vom Publikum gewürdigt. Irgendwie hatte man jetzt schon der Eindruck, dass dieser Abend der Höhepunkt der Chemnitzer Tetralogie sein würde.


„Siegfried“. Der Wanderer und Alberich. Foto: Nasser Hashemi

Im „Siegfried“, inszeniert von Sabine Hartmannshenn, kam dann nicht nur der dem „Ring“ innewohnende Mythos zu seinem Recht. Sie fand auch Zugang zu einer spezifisch „weiblichen Sicht“, wenngleich es ähnlich auch in Inszenierungen männlicher Regisseure vonstattengeht, ohne dass es dort einer erklärenden Hervorhebung bedarf, ja sogar in der Konzeption des „Siegfried“ bei Wagner selbst. Hartmannshenn hebt in Bezug auf den 1. Aufzug hervor, dass es „weiblich“ und „männlich“ zur Aufzucht der Jungen geben muss. Man denke nur an Mimes Spruch: „Ich bin dir Vater und Mutter zugleich.“ Noch bedeutsamer ist jedoch Hartmannshenns Hervorhebung der Beschreibung der Liebe durch Richard Wagner, die Siegfried ja im Finale erlebt, als das ‚ewig Weibliche selbst‘, denn das ist wohl kaum zu widerlegen. Wir hörten es als allgemeine Weisheit ja schon bei Loges Erzählung im „Rheingold“ – insofern also nicht etwas ganz Neues. Aber es ist wohl schon eine Form „weiblicher Sicht“, wenn die Regisseurin Wagner folgendermaßen zitiert: „Nicht Einer kann Alles; es bedarf Vieler und das leidende, sich opfernde Weib wird endlich die wahre wissende Erlöserin, denn die Liebe ist eigentlich ‚das ewig Weibliche‘ selbst.“

Anders als Wagemakers bei Siegmund hat Hartmannshenn kein Problem mit einer vermeintlich zu männlichen Ausstrahlung eines Schwertes, lässt den Wanderer dafür aber mit einer Art Leuchtstoffröhre durch den Wald wandeln, während sie ausgerechnet Alberich den Wotan-Speer verpasst. Also Lichtalbe gegen Nachtalbe, durchaus sinnvoll. Eine Spitze an des Wanderers Speer wär ohnehin nutzlos gewesen. Die Szene zwischen ihm und Alberich im 2. Aufzug wurde damit, auch weil sie von den zwei alten Wotan-Recken Jukka Rasilainen und Ralf Lukas gespielt wurde, zu einem der Höhepunkte des Abends. Und das ist sie nicht oft.

Siegfrieds Selbsterkenntnis findet hier  in einem mythisch wirkenden Bühnenbild von Lukas Kretschmer aus eckigen in Grün und Bläulich gehaltenen Baumstämmen statt, in dem er als Choreograf eine kaum wahrnehmbare Gruppe von Menschen agieren lässt. Hartmannshenns interessante Idee dazu ist, dass das Erwachsenwerden Siegfrieds sich nicht nur mit Mime allein bewerkstelligen lässt. Es bedarf auch anderer dazu, natürlich am Schluss der Liebe Brünnhildes. So permutieren diese Statisten im 2. Aufzug zu einem bestechend choreografierten Fafner mit Goldmasken auf ihren verhüllten Gesichtern. Als Siegfried den „Drachen“, der übrigens perfekt verstärkt war, was nicht allen Häusern gelingt, klassisch per Schwert besiegt hat, wird klar, dass er und damit der Schatz aus einer unterdrückten Menschenmasse, einer „Verhandlungsmasse Mensch“ besteht, die er nun befreit hat und die ihm deshalb auf seinem weiteren Weg zum Brünhilden-Felsen folgen wird. Ein guter Regieeinfall, der Erinnerungen an den sog. „Colón-Ring“ in Buenos Aires 2012 und den laufenden „Ring“ in Kassel wachruft. Damit charakterisiert die Regisseurin bereits in einem frühen Stadium die Sozialisierung Siegfrieds, an der auch der mädchenhafte und perfekt gesungenen Waldvogel von Guibee Yang wesentlichen Anteil hat, die ihm jedoch nicht die Gefahren des wirklich Bösen nahebringt, weshalb er später immer noch naiv in die Fänge der Gibichungen geraten wird, wo er sonst aber wahrscheinlich gar nicht erst hingekommen wäre.

Mit der Siegfriedschen Naivität geht die Kostümbildnerin Susana Mendoza zumindest beim Titelhelden zu weit, wenngleich alle anderen Outfits angemessen bis interessant erscheinen. Siegfrieds knielange kurzen braunen Hosen lassen ihn eher wie einen Deppen aussehen als den zwar naiven, aber doch immerhin Enkel eines Gottes, sei es auch noch so sehr eine Familientragödie. Auch dass er beim Aufstieg auf den Brünnhilden-Felsen Blinde Kuh spielen muss, wirkt doch etwas störend angesichts der dazu erklingenden Musik. Interessant ist dagegen die fantasievolle Körperzeichnung auf der entblößten Brust des Wanderers, die wohl aufgrund des fehlenden Speeres seine Weltrunen darstellen soll. Es sieht jedenfalls gut aus. Runen zeichnen Siegfried und Mime auch auf einige Bäume im 2. Aufzug, hier auch wieder den Mythos referierend, der gerade durch den unheimlichen Wald so intensiv mit dem Scherzo des „Ring“ verbunden ist. Mathias Klemm schuf dazu die stets passende subtile Lichtregie. Und man kam ganz ohne die albernen Rucksäcke aus, die Sänger und Publikum in Wien seit Jahren ertragen müssen!

Der Chemnitzer Siegfried „vom Dienst“, Daniel Kirch, hatte an diesen Tagen in Amsterdam als Tannhäuser zutun, sodass der aus dem Sofia-„Ring“ wohlbekannte Martin Iliev für die Titelrolle einsprang. Allerdings singt er dort nur den „Götterdämmerung“-Siegfried, denn er ist eher der geschlagene depressive Held, der ihn auch zu einem guten Siegmund und Tristan macht. Die jugendliche Behändigkeit des jungen Siegfried ist darstellerisch und bis zu einem gewissen Grad auch gesanglich seine Sache nicht so ganz. Aber Iliev überzeugte über lange Stecken mit seinem klangvollen Heldentenor mit schönem Timbre sowie einer interessanten baritonalen Abdunkelung. Arnold Bezuyen gab eine Charakterstudie des Mime mit unglaublicher Spielintensität und Mimik. Sein vokaler Vortrag war nicht unbedingt Schöngesang, muss es für den Mime auch nicht sein. Aber es gab doch einige Vokalverfärbungen, was bei seiner Rollengestaltung aber kaum ins Gewicht fiel.

Sowohl Ralf Lukas als auch Jukka Rasilainen, der den kleinen Hagen dabei hat, obwohl der so alt wie Siegfried sein müsste und ihm mal eben zeigt, wie man eine Frau vergewaltigt, waren als Gegenspieler Wanderer und Alberich um den Ring Extraklasse, wenngleich Lukas bei der Erweckung Erdas in der stimmlichen Dynamik an seine Grenzen geriet. Diese wiederum wurde von der bewährten Simone Schröder mit ihrem klangvollen Alt souverän verkörpert. Sie tauchte immer wieder auf, ein weiteres Element von „weiblicher Sicht“ in dieser Inszenierung, zu der sicher auch die letzte Geste um Hilfe des Waldvogels (diesmal exzellent: Guibee Yang) bei ihr gehörte, nachdem dieser vom Wanderer tödlich verletzt worden war (!). Warum Erda eine Dornenkrone trug und man gar Blutfluss gewahrte, bleibt wohl ohne genauere Orientierung durch die Regisseurin unerklärlich… Der schon als Hunding beeindruckende Magnus Piontek sang mit prägnantem Bass einen stimmstarken Fafner.


„Götterdämmerung“. Hagen (Marius Bolos) und die Gibichungen. Foto: Kirsten Nijhof

Elisabeth Stöppler, mit dramaturgischer Unterstützung von Susanne Holfter und einer guten Lichtgestaltung von Holger Reinke inszenierte schließlich die „Götterdämmerung“ und stellt gleich zu Beginn im Prolog durch die Nornen klar, dass es hier um den Weltuntergang, „Dystopie allerorten“ geht. Denn wir erleben die drei Wissenszuträgerinnen Erdas in vereistem Umfeld, als Charaktere kaum noch erkennbar und sich in dicken Fellen schwerfällig bewegend. Das passt natürlich zu ihrem Bericht vom Untergang der Natur, der sinkenden Weltesche und dem Austrocknen des heiligen Quells, an dem Wotan sich einst ein Auge ausgestochen hatte, um die Weisheit zu gewinnen, die „Ursuppe“zu einer sinnvollen und geregelten Welt zu gestalten. Annika Haller wartet mit einem kontrastreichen Bühnenbild auf und unterstützt damit die Absicht Stöpplers, einerseits die langsam verkommende Natur anhand eines eisigen und mythisch anmutenden Brünnhildenfelsens zu zeigen, der langsam aber imposant aus dem Nornenbild entsteht. Auf ihm entwickelt Brünnhilde mit ihrer reinen Liebe zu Siegfried gleichwohl noch einmal letzte Kräfte der Menschlichkeit und Empathie, weil sie diese nicht nur bei Siegmund und Sieglinde zuerst erfahren, sondern in der Beziehung zu Siegfried noch weiter ausgebaut hat.

Noch kann Brünnhilde deshalb dem Naturverfall und damit dem drohenden Verlust ihres Mediums und damit ihrer Identität trotzen, während Stöppler andererseits die Bühnenbildnerin eine Gibichungenhalle bauen ließ, die die Wotanstochter im 2. Aufzug in eine hedonistische Welt voller Oberflächlichkeit, Überdrüssigkeit und Orientierungslosigkeit eintreten lässt, die schockierender für sie kaum sein kann. Nachdem sie durch ein geschickt gelöstes Betrugsspiel von Siegfried und Gunther, die beideidentisch wie Weltraumfahrer – in allerdings hellgelben (Neid/Neidspiel?) – Anzügen aussehen, kommt sie in einen eleganten, holzgetäfelten Salon, in dem die wesentlichste Beschäftigung darin besteht, sich von Hagen hochprozentige Drinks machen zu lassen. Wenn die Mannen, natürlich ohne Bewaffnung, und die Frauen kommen, wird einem schnell klar, dass dies eine Welt ist, die auf reinem Schein, menschlicher Missachtung und der Suche nach dem eigenen Vorteil basiert. Gesine Völlm hat nicht nur hier Gelegenheit, ihre facettenreiche Phantasie als international renommierte Kostümbildnerin zu dokumentieren.

Stöppler zeigt an Hagen eindrucksvoll, wie sehr auch er von seinem Vater benutzt wird, um den Ring der ultimativen Macht zurück zu gewinnen und daran eigentlich schon im 2. Aufzug zerbricht. Siegfried hat er zuvor noch mit einer Droge das Gedächtnis dermaßen zersetzt, dass dieser ständig weiteren Stoff braucht und nie mehr Herr seiner selbst wird, bis zum finalen Gesang auf Brünnhilde, die ihn dabei wie zum Tode vorbereitet. Als Kehrseite der feinen Welt der Gibichungen sieht man die verkommenen Rheintöchter im verschlungenen und verdreckten Geäst der Versorgungsrohre auf der Rückseite der Gibichungenhalle. Diese Produktion lebt dramaturgisch und optisch von starken Kontrasten, die sich aber immer stringent in der Ausdruckswelt Richard Wagners bewegen.

Wenn es bei Elisabeth Stöppler neben ihrer starken Zeichnung der Brünnhilde als liebender und letztendlich dominanter Frau einen Versuch gab, eine „weibliche Sicht“ auf den „Ring“ zu werfen, dann entstand er aus ihrer Feststellung, dass nirgendwo in der Tetralogie die Mütter der zahlreichen Töchter auftreten, bei denen sich Rheintöchter, Nornen und Walküren, aber m.E. auch Sieglinde, trösten könnten, insbesondere bei der Urmutter Erda. So kommt es im Finale zur großen Wiederbegegnung von Erda mit ihrer Tochter, den Rheintöchtern, der 1. Norn (die anderen beiden waren ja hier im 3. Aufzug anderweitig besetzt), und aus der Ferne auch Gutrune. Erda umarmt Brünnhilde herzlich, ein noch weiblicherer Schluss, zumal angesichts der dazu erklingenden Melodie der Sieglinde zur Mutterliebe, ist wohl kaum denkbar, aber auch nicht ganz neu. Barry Kosky ließ in Essen seine nackte, weit über 80jährige Erda, zu den Schlusstakten vom Souffleurkasten ins Publikum starren. Und bei Jasmin Solfaghari waren in Odense 2018 im Finale die Frauen auf der Bühne, die in den letzten Szenen beteiligt waren, also außer Brünnhilde die trauernde Gutrune und die Rheintöchter. Diese luden dann immerhin die bei Wagner vorgesehenen „Männer und Frauen“, also das überlebende Volk (bei Solfaghari der Herrenchor der „Götterdämmerung“) zu sich. So fanden sich in Odense eine Göttin, Nixen, eine Königstochter und das Volk zusammen. Ein wohl auch als „weiblich“ zu charakterisierender Schluss, aber wohl eher im Sinne Richard Wagners als jener in Chemnitz. Denn nur aus Frauen kann sich nun mal keine neue Welt entwickeln. Und dass sie bei aller Mutterliebe ganz untergeht, wollte Wagner ja am Ende doch nicht…

Martin Iliev merkte man an diesem Abend an, dass er sich mit dem „Götterdämmerung“-Siegfried wohler fühlt als mit dem jungen. Er konnte auf seine klangvolle, baritonal abgetönte Mittellage vertrauen und sorgte auch darstellerisch für eindrucksvolle Momente. Stéphanie Müther war wieder eine starke Brünnhilde, sowohl schauspielerisch wie stimmlich, wenn auch manches an diesem Abend etwas metallisch geriet. Sie wurde der am Ende alles Wissenden voll gerecht. Jukka Rasilainen verkörperte den alternden Alberich im Einreden auf seinen Sohn nachdrücklich, und die Fricka der Abende zuvor, Anne Schulte, beeindruckte als emotionale und dramatische Waltraute. Die Sieglinde der „Walküre“, Cornelia Ptassek, war nun auch eine stimmlich wie darstellerisch überzeugende Gutrune. Pierre-Yves Pruvot gab einen etwas unauffälligen Gunther. Der noch recht junge Rumäne Marius Bolos verkörperte eher einen Hagen light, blieb der so zentralen Figur in der „Götterdämmerung“ einiges an Bedeutungsschwere und stimmlichem Volumen schuldig. Aber das passte auch wieder zu der hier gewählten Rollenkonzeption einerseits als Barkeeper und andererseits als vom Vater völlig gebrochener Sohn. Anja Schlosser, Sylvia Rena Ziegler und Cornelia Ptassek waren stimmschön agierende Nornen, und die Rheintöchter Guibee Yang, Sylvia Erna Zieglerund Sophia Maeno verliehen ihrer Enttäuschung über den Geiz des Helden angemessenen stimmlichen Ausdruck. Die von Stefan Bilz einstudierten Damen und Herren des Opernchores und Chorgäste sangen kraftvoll und waren sehr phantasievoll und dynamisch choreografiert.

Der Spanier Guillermo Gracía Calvo, seit der Spielzeit 2017/18 Generalmusikdirektor an den Theatern Chemnitz, leitet diesen „Ring“, der nicht sein erster ist. Er hat auch die Stabführung der Tetralogie am Teatro Campoamor in Oviedo und bereits über 200 Aufführungen an der Wiener Staatsoper dirigiert. In Wien studierte er auch an der Universität für Musik und Darstellende Kunst. Nach einigen anfänglichen Nervositäten im „Rheingold“, die zu einem guten Teil wohl auch der unruhigen Regietheater-Produktion von Verena Stoiber geschuldet sind, lief der junge GMD mit der gewohnt guten Robert-Schumann-Philharmonie zu einer außergewöhnlichen Hochform auf. Man merkte ihm an, dass ihm Richard Wagner etwas ganz Besonderes bedeutet, auf das ich im nächsten Heft bei Wiedergabe eines Interviews mit ihm noch näher eingehen werde. Calvo wurde ab dem „Siegfried“ zu den  jeweils 3. Aufzügen mit großem Auftrittsapplaus bedacht. Und das völlig verdient. Er wusste ebenso große dynamische Steigerungen auszuformen und dabei hohe Transparenz der einzelnen Gruppen zu wahren, wie auch die kontemplativen und ruhigeren Passagen ausmusizieren zu lassen. Ein guter Kontakt mit allen Sängern sicherte große Harmonie zwischen Bühne und Graben. Man kann die Theater Chemnitz zu diesem Engagement nur beglückwünschen. Von diesem Musiker wird noch einiges zu erwarten sein, und wohl nicht nur in Chemnitz.

Gibt es also nun eine spezifisch „weibliche Sicht“ auf den „Ring“?Muss es überhaupt eine „weibliche Sicht“ gegenüber einer „männlichen“ geben?! Nach allem, was zuvor und nun in Chemnitz zu erleben war, denke ich, dass Wagner auch diese Komponente in sein Riesenwerk eingebaut hat, zumal das Weibliche ihm doch nur allzu hold war. Es ist eigentlich nur eine Frage, ob,wie und in welcher Intensität man diese Elemente dramaturgisch und konzeptionell hervorhebt bzw. hervorheben will. Und das kann, wie ich glaube, bei gutem Studium dieses Werkes sowohl ein Regisseur wie eine Regisseurin…   

Eines machte diese Inszenierung des „Ring“ durch vier Regisseurinnen aber auch deutlich. Wenn man von der aus dem Rahmen fallenden Regietheater-Konzeption des „Rheingold“ einmal absieht, konnten die anderen drei Stücke der Chemnitzer Produktion als relativ homogen angesehen werden, wobei man natürlich nicht weiß, ob es zu Abstimmungen zwischen den drei Regisseurinnen gekommen ist. Man muss mit einer Drei- bzw. Vierfachbesetzung der Regie des „Ring“ also nicht automatisch störende dramaturgische Brüche in der Homogenität zyklischer Produktionen befürchten. Man kann mit vier verschiedenen Regisseurinnen oder Regisseuren aber das immer wieder zu erlebende Problem vermeiden, dass einem Regisseur nach der „Walküre“ „nichts mehr einfällt“, ja er oder sie in den weiten Ebenen der Mühe des „Siegfried“ zur Langeweile neigen. Selbst Wagner hatte damit ja seine Probleme…                                                     

Klaus Billand

 

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