CD YAARA TAL: 1923 – Klaviermusik, die vor hundert Jahren komponiert oder zum ersten Mal veröffentlicht wurde; Sony
Der Bayerische Rundfunk interessiert sich in einer wachsenden CD-Serie für die Goldenen und wilden 20-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die vorwiegend dem Sound der damaligen Orchestermusik nachspürt. Im BR haben auch das seit knapp vierzig Jahren zusammen musikalisch schöpferische Klavierduo Yaara Tal und Andreas Groethuysen am 9.5. dieses Jahres ein Konzert live aus dem Studio 2 des Münchner Funkhauses unter demselben Motto gegeben. Link https://www.br-klassik.de/programm/radio/ausstrahlung-3136620.html
Damit hört aber die Faszination für diese Epoche, die in vielen Aspekten unserer „Wendezeit“ ähnelt, nicht auf. Filmisch ist etwa die deutsche Krimi-Fernsehserie „Babylon Berlin“ zu nennen, deren vierte Staffel gerade anläuft (der Roman „Goldstein“ von Volker Kutscher bildetet dafür die Vorlage), die den politisch radikalen, im Lebensstil frivol, sexuell freizügigen Wandel der Zeit in rauschhaft starken Bildern festhält.
Auf ihrer neuesten CD mit dem einfachen Signum „1923“ geht die Pianistin Yaara Tal der facettenreichen und polarlichtigen Bandbreite der Klaviermusik der führen 1920er Jahre überwiegend solo nach. Nur in Heautontimorumenus‘ (=Fritz Heinrich Klein) „Die Maschine“ Op. 1, einer humorvoll-fantastischen „extonalen Selbstsatire“, wird sie von Andreas Groethuysen vierhändig unterstützt.
Wie viele gegenläufige Strömungen der Musik hier aufeinandertreffen, sich zaghaft gegenseitig befruchten bzw. weit in die Zukunft weisen, ist wirklich dieses großartige recherchierte wie stilistisch weit gefächerte Exempel wert. Yaara Tal spricht von drei Teilen der CD. „In der Mitte ist musikhistorisch gesehen die bedeutendste Abteilung. Sie ist dem Zwölftonkosmos gewidmet. Natürlich mit Werken von Arnold Schönberg, aber auch mit denen von Josef Matthias Hauer, Fritz Heinrich Klein und Hanns Eisler. Musikhistorisch gesehen stellen diese Werke die wichtigste Botschaft der CD dar. Davor habe ich Musik geplant, die der Natur und einer gewissen Spiritualität gewidmet ist. Mit Joseph Achron, Ernest Bloch und naturhaften Stücken von Frederick Delius. Das letzte Kapitel enthält Musik, die das Seelische im Menschen beschreibt. Mit Werken von Leoš Janáček und Frederico Mompou, und dann das Unterhaltsame und Witzigere mit Alexandre Tansman und Emile Jaques-Dalcroze.“
Die Wegmarken von impressionistisch-mystischen Klängen, spätromantischer Komplexität, beschwingter Tanzmusik, diversen nationalen Strömungen, einer neoklassizistischen, formal streng an die Kontrapunktik der Barocke anknüpfenden Bewegung und natürlich der experimentellen Zwölftonmusik kreuzten einander in waghalsigen Überlagerungen. Elemente des Jazz hielten Einzug in die klassische Musik, in Europa begannen Rundfunkanstalten allen Krisen zum Trotz ihr wichtiges informatives Werk. Die nicht immer segensreiche Verknüpfung von Politik, Kultur und Medien erlebte ihre Geburtsstunde, die Moderne hielt Einzug ins 20. Jahrhundert.
Yaara Tal hat für Sony (koproduziert mit dem BR) – basierend auf einer Idee von Tobias Bleek, dem Verfasser des Buches „Im Taumel der Zwanziger; 1923: Musik in einem Jahr der Extreme“ (J. B. Metzler Verlag), nicht nur verschiedene Musik der 1923-er nach Lehrbuchart zusammengetragen, sondern sie knüpft an frühe persönliche Begegnungen und Erlebnisse an. Schon als Neunjährige hat sie Joseph Achrons „Chalom“ (=Traum) gespielt, nicht allzu viel später begegnete sie dank ihres neugierigen ersten Klavierlehrers Azriel Beresowski, dem das Album gewidmet ist, auch den „Trois Entrées dansantes“ von Émile Jaques-Dalcroze.
Fritz Heinrich Klein, der unbekannteste Komponist auf der CD, war ein echter Pionier. „Er war wahrscheinlich der Allererste, der ein Stück in einem Zwölftonsystem komponiert hat und die Töne in sein eigenes System gebracht hat.“, so Yaara Tal, die dem vielleicht spannendsten Stück der CD gemeinsam mit ihrem Partner am Klavier beherzt und leidenschaftlich auf den Zahn fühlt.
Hoch interessant ist nicht zuletzt Tals Auswahl der Klavierstücke Op. 25 von Josef Matthias Hauer mit Überschriften nach Worten von Friedrich Hölderlin. Hauer, Komponist, Musiktheoretiker und Volksschullehrer aus Wien, hatte schon 1919 eine von Schönberg unabhängige, gänzlich andere Methode der Zwölftonmusik erfunden. In seinem 16-teiligen Op. 25 steht jedem einzelnen Part ein Vers aus einem Gedicht Hölderlins („Deine Wellen umspielten mich“, Lächelnd über Silberwolken neigte sich segnend herab der Äther“, …) vor, die auch als „Wegweiser zur Interpretation verstanden werden können, denn in Hauers spartanischem Notenwerk gibt es weder Tempo- noch Vortragsbezeichnungen“ (Tobias Bleek).
Mir gefällt an diesem Album neben der aufschlussreichen Entdeckungsreise in das musikalische Universum von 1923 ganz besonders, dass Yaara Tal für jedes der Stücke genuin passende Anschlagvarianten wählt und für die Stücke ein atmosphärisch reiches Spektrum an Farben bereithält.
Die Einbettung der für viele noch immer schwer verdaulichen Zwölftonkompositionen in einen klingenden zeitgeschichtlichen Rahmen hilft beim Verständnis und der Fassbarkeit der mit dem Wort „atonal“ nur unzureichend charakterisierten, streng formalen Stücken.
Das Album „1923“ ist wie das Buch“ Im Taumel der Zwanziger“ von Tobias Bleek äußerst empfehlenswert!
Dr. Ingobert Waltenberger