CD WONDERLAND – KING’S SINGERS; signum classics
Kindergeschichten, Mythen, Volkssagen & mehr in zeitgenössischem Männerensemblesound
„The Cuckoo sat in the old pear-tree, Cuckoo! Raining or snowing, nought cared he. Cuckoo! Cuckoo, cuckoo, nought cared he.“ William Brighty Rands
Die King’s Singers, bestehend aus zwei Countertenören, einem Tenor, zwei Baritonen und einem Bass, gibt es seit 55 Jahren. Sie sind Teil und zugleich Krönung der großen britischen Chortradition. Sie verkörpern den höchsten Standard an a cappella Gesang, fantasievoll, grenzüberschreitend, umwerfend in ihren spezifischen Klangschöpfungen, denen keine Harmonie und kein Rhythmus zu komplex und kein Laut zu schräg ist.
Im Laufe der Jahre hat das Ensemble bei vielen zeitgenössischen Komponisten Aufträge vergeben. An die 200 waren es bis dato, die meisten davon bei führenden Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts. So machen den Löwenanteil des neuen Albums „Wonderland“ die sechs Nonsens Madrigale von György Ligeti, geschrieben 1988-1993, aus.
„Two dreams and little bat“ ist ein Arrangement aus drei verschiedenen Gedichten, die parallel gesungen ziemlich chaotisch wirken: ‚The dream of a girl who lived at Seven-Oaks‘ und ‚The dream of a boy who lived at Nine-Elms‘ von William Brighty Rands sowie ‚Twinkle, twinkle, little bat‘ aus „Alice’s Adventures in Wonderland“ von Lewis Carroll. Ligeti setzt seinen Zyklus mit einem die zaghafte Liebe zum einzig richtigen Kuckuck feiernden, keck lautmalerischen ‚Cuckoo in the Pear-Tree‘, einem dissonanz-reibungsfreudig, mikropolyphon verkomponierten Alphabet, den Passacaglia-Studien ‚Flying Robert‘ (Heinrich Hoffmann) und ‚Lobster Quadrille‘ (Lewis Carroll) sowie last but not least ‚A Long, Sad Tale‘ (Lewis Carroll) fort.
Ligeti, dessen Geburtstag sich am 28.5.2023 zum 100. Mal jährte, hat rhythmisch und polyphon höchst komplexe Chorsätze auf Kindergedichte ersonnen. Der polnische Komponist hat die Mensuralnotation des 14. Jahrhunderts mit der afrikanischen Polyrhythmik verbunden. So können mehrere Melodielinien in verschiedenen Tempi kombiniert werden. Notenwerte hat Ligeti fallweise in fünf oder sieben Einheiten unterteilt. „Diese Madrigale können als rein technische, virtuose Konstruktionen oder als ausdrucksgeladene Botschaften gehört werden. Beides ist Nonsens.“, so der Komponist. Kein Wunder, dass die sechs royalen Solisten und die Mehrzahl ihrer Vorgänger bei der Frage nach den gesangstechnisch „härtesten“ Stücken in ihrer Bibliothek auf diesen avantgardistischen Zyklus verweisen (würden).
Die jetzige Mannschaft aus Cambridge mit Patrick Dunachie, Edward Button (Countertenöre), Julian Gregory (Tenor), Christopher Bruerton, Nick Ashby (Bariton) und Jonathan Howard (Bass) rekrutiert sich aus lauter genialen musikalischen Geschichtenerzählern, mit der richtigen Stimme in der Gurgel und zu jedem Humor zungenfertig bereit, das Album zu einer Feierstunde kunstvollen Ensemblegesangs stilisiert.
Gestartet wird mit Makiko Kinoshita’s „Song for Tomorrow“, das die Komponistin auf einen Text von Masumitsu Miyamoto für eine Japan-Tour der King’s Singers 2020 schrieb, die schlussendlich wegen der Pandemie dann doch nicht stattfand. Das Gedicht geht der Idee der Drehung der Erde im metaphorischen Sinn eines täglich neu Hoffnung-Schöpfens nach. Die sphärischen Harmonien hüllen das Publikum in einen Mantel der Zuversicht: „The reason why you keep singing is because you want to protect someone.“
Der norwegische, in den USA lebende Pianist und Tonsetzer Ola Gjeilo erhielt den Auftrag für „A Dream within a Dream“ von der King’s Singers Global Foundation 2022. Das Gedicht von Edgar Allen Poe, in sanft friedliche Harmonien getaucht mit einem repetitiven fading out, erzählt von einem sterbenden Mann zwischen Realität und Vision, der über die Wahrnehmung von Wirklichkeit, über Sein und Schein räsoniert.
Ebenfalls aus dem Jahr 2022 stammt „Alive“ der jungen britischen Komponistin Francesca Amewudah-Rivers. Die Musikerin beschwört in einer originellen Mischung aus Popsong, Volksweise und Choral auf eigene poetische Worte die Wunder der Schöpfung, die Dankbarkeit, die Schönheit der Natur erleben zu dürfen. Eines der in seiner Leichtigkeit und Intimität bewegendsten Stücke des Albums.
Joe Hisaishi, japanischer Komponist und Pianist, bekannt vor allem durch seine Filmmusiken von Werken Hayao Miyazakis und Takeshi Kitanos als auch von Spielesoundtracks, ist ein Anhänger der Minimal Music. In „I was there“ werden englische und japanische Worte in rhythmische Muster gepackt. Den Hintergrund von Sätzen wie ‚I was there‘, ‚I’ll be there‘ bilden Tragödien wie 9/11, das Tohoku Erdbeben von 2011 und Covid. Wahrlich kein Märchen- oder Kinderstoff.
Judith Bingham „Tricksters“ dreht sich um die Frage ‚Wer brachte das Feuer auf die Erde?‘ Und so wetteifern Gaia, Coyote, Loki, Kawku-Ananse und der mythische ostasiatische Mondhaase jazzig um den Ursprung der Geschichte.
Natürlich interessiert uns die Vertonung der „Bremer Stadtmusikanten“ vom australischen Komponisten und Master of the Queen’s Music Malcolm Williamson aus dem Jahr 1972. Die Grimm’sche Freundschaftsgeschichte der vier aufgrund ihres Alters und ihrer Nutzlosigkeit von den Menschen ausgemusterten so unterschiedlichen Geschöpfe Esel, Jagdhund Packan, Katze und Hahn Gocki, die gemeinsam ihr trauriges Schicksal austricksen und sogar die Räuber bezwingen, ist eine virtuos temporeiche Hymne an das Leben. ‚Tomorrow Bremen! Tonight sleep! Tomorrow happiness! Tonight content.‘
Das Album schließt mit „Time Piece“ (1972) von Paul Patterson, einer eigenwilligen Schöpfungsgeschichte nach Worten von Tim Rose-Price. Vergessen Sie den Apfel, die Schlange & Co für den Sündenfall. Die Uhr war’s! Eva fragt Adam im Paradies, was er da am Handgelenk trägt? Es ist eine Uhr, schockresistent und wasserdicht. Gott gefiel das nicht und er sagte ‚Clocks are bad news.‘ Es soll keine Uhren mehr geben. Das ging so lange gut, bis Eva Adam nach der Uhrzeit fragte…. In seiner feinen Ironie ist die Komposition mein persönlicher Favorit der CD.
„Wonderland“ ist ein höchst anspruchsvolles Chor-Album, das für jung gebliebene, sprachfitte Erwachsene wohl eher passt als zu Kindern. Jedenfalls suggeriert die wunderbare Illustration auf dem Cover eine echte Märchenstory, die es so auf dem Album nicht zu hören gibt. Dafür dürfen sich eingefleischte Musikgourmets mit Vorliebe für Zeitgenössisches über dreizehn a cappella Gesänge in der Länge von knapp zwei bis etwa 10 Minuten freuen, die vorwiegend Glanz und in Teilen die Problematik einer übersteigert schwierig zu realisierenden Musiksprache im Hier und Jetzt zeigt.
Die King’s Singers sind in jeder Hinsicht eine Wucht und werden ihrem legendären Ruf einmal mehr gerecht. Kein Wunder, dass der künstlerisch so erfrischende polnische Countertenor Jakub Józef Orliński in der Arte-Dokumentation „Music for a while“ meinte, er hätte während seines Studiums als höchstes vorstellbares Ziel von einer Mitwirkung bei den King‘s Singers geträumt, die er sehr bewundert. Die Bewunderung ist ganz unsererseits, die Selbstverständlichkeit, mit der vertrackteste Rhythmen und Intervalle auf den Punkt gegart serviert werden, ist fast schon unheimlich.
Dr. Ingobert Walterberger