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CD WOLFGANG AMADEUS MOZART „MITRIDATE, RE DI PONTO“ – MICHAEL SPYRES triumphiert in der Titelpartie einer von MARC MINKOWSKI mitreissend dirigierten Aufnahme; Erato

28.11.2021 | cd

CD WOLFGANG AMADEUS MOZART „MITRIDATE, RE DI PONTO“ – MICHAEL SPYRES triumphiert in der Titelpartie einer von MARC MINKOWSKI mitreissend dirigierten Aufnahme; Erato

Des 14-jährigen Amadeus‘ überschäumend inspirierte Opera seria in einer mustergültigen Interpretation

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Marc Minkowski kann einige Erfahrung mit diesem wohl spektakulärsten, in den Arien und Ensembles unfassbar virtuosen und koloratursprühenden Frühwerk Mozarts aufweisen. Schon 2006 hat er bei den Salzburger Festspielen eine Produktion von „Mitridate, re di Ponto“ in der Regie von Günter Krämer dirigiert mit Richard Croft, Netta Or, Miah Persson, Bejun Mehta, Ingela Bohlin, und Pascal Bertin in den Hauptrollen. Die Aufführung wurde gefilmt und ist auf DVD erhältlich. 

Am 13.11.2020 sollte Marc Minkowski an der Staatsoper unter den Linden eine szenische Premiere von „Mitridate“, die ähnlich der nun erschienen CD u.a. ebenfalls mit Julia Fuchs als Aspasia und Elsa Dreisig als Sifare besetzt war, dirigieren. Daraus und einer geplanten Opern-Tournée nach Moskau, Barcelona, Valencia und Paris ist dann Corona-bedingt nichts geworden. Dank Erato/Warner Classics war aber nicht alle Proben-Liebesmüh verloren, man setzte vom 19. bis 23. November kurzerhand Aufnahmetermine in der Pariser Philharmonie an. Nur der samuanische Tenor Pene Pati in der Titelpartie wurde durch Michael Spyres ersetzt. Der wiederum hat den „Mitridate“ schon in Brüssel, in Madrid und am 11.2.2016 in Paris im Théâtre des Champs-Elysées mit Emmanuelle Haïm am Pult und  den französischen Opernstars Sabine Devieilhe als Ismene und Cyril Dubois als Marzio gesungen. Die beiden finden sich auch genau so wie die Countertenorentdeckung Paul-Antoine Benos-Djian als Farnace und die Mezzosopranistin Adriana Bignagni Lesca als Arbate auf der Besetzungsliste der neuen CD.

Am 26.12.1770 im Mailänder Teatro Regio Ducale aus der Taufe gehoben, natürlich zu Beginn der dortigen Karnevalszeit, hatte Mozart sämtliche der zwanzig Arien den Sängern passgenau in die Gurgel komponiert. Dennoch war es ganz und gar nicht so, dass die Divas und ihre männlichen Pendants sofort mit den vorgesetzten Noten zufrieden waren. So wollte etwa Antonia Bernasconi, die erste Interpretin der Aspasia, ihre Arien in einer Vertonung des Librettos von Quirino Gasparini singen. Als sie es doch mit Mozart versuchte, war der Erfolg so durchschlagend, dass sie immerzu Zugaben geben musste. Als ziemliches Ekel erwies sich auch der Tenor Guglielmo d’Ettore, der vier Fassungen der Auftrittsarie der Titelpartie ablehnte, bevor es Mozart gelang, den Gockel mit einem stilistisch an Gasparini angelehnten, aber im innersten ganz mozartisch klingenden “Se di lauri il crine adorno” einigermaßen zufrieden zu stellen. Bei der Arie im dritten Akt war aber Schluss mit lustig. D’Ettore wollte Gasparini und nicht die Schöpfung des Teenagers Mozart.

Heute dürfen wir dankbar sein, mit einer solch erstklassigen Aufnahme wie der vorliegenden, die der 1998 entstandenen Einspielung unter Christophe Rousseau zumindest von der orchestralen Umsetzung her wohl den Referenzstatus abknöpft, höchst vergnüglich in eine greifbare gewordene Vergangenheit der Oper zurückzublicken. Die Handlung rund um den tapferen König von Pontus, Mitridate, der gegen die Römer kämpft, und daheim das übliche Fiasko aus Liebesirrungen und -wirrungen samt allen möglichen Loyalitätskonflikten zurück lässt, ist im westlichen Anlass, um vokale Feuerwerke abzuzünden, die Geläufigkeit und das Virtuosentum der Stars ins beste Licht zu rücken. Mozart hebt sich dabei von vielen der berühmtesten Zeitgenossen dadurch ab, dass es ihm im Ansatz schon gelingt, die Charaktere gekonnt mit rein musikalische Mitteln zu konturieren. Die Tonsprache weist ebenso auf die späteren Opern hin, das galante Rokoko bannt sich seinen Weg. 

Die Besetzung bietet wohl mit das beste, was heute möglich ist. Julie Fuchs als Aspasia kann es von Timbre und Beweglichkeit sogar mit ihrer berühmten Vorgängerin auf Platte, Nathalie Dessay, aufnehmen. Der Wundertenor Michael Spyres scheint mit der von der Tessitura her beinahe unanständig hoch gelegenen Partie alle Gesetze der Schwerkraft Lügen zu strafen. Die wildesten Intervallsprünge, alle Verzierungen und Akuti gelingen mühelos, lediglich in manch lyrischen Legatobögen könnte man sich als Luxusanmerkung ein Mehr an verführerischem Schmelz vorstellen. Die lyrische Sopranistin Sabine Devieilhe als steil aufgehender Stern am Opernhimmel nutzt die zwei Arien der Ismene, um ihren apart leuchtenden, federleicht agilen Sopran wie schönste Girlanden noch in stratosphärischen Höhen durch den Raum schweben zu lassen. Ein ganz besonderes Vergnügen bereitet der französische Countertenor Paul-Antoine Bénos-Djian als Farnace, einer großen Partie mit vier Arien, wovon die letzte “Già dagli occhi il velo é tolto” beinahe 10 Minuten lang ist. Mit einer glänzenden, individuell timbrierten Mittellage gesegnet, tiriliert er mühelos durch die verschiedenen Oktaven der Arien, und bleibt gleichzeitig als Figur stets interessant und packend. Elsa Dreisig als Sifare bleibt mit ihren eindimensionaleren Stimmfarben und von der Emotion vergleichsweise zurück, lässt aber vor allem in der Arie im dritten Akt mit einem wunderbaren Legato und gepflegter Linienführung aufhorchen. Den französischen Tenor Cyrill Dubois zu loben, heißt Eulen nach Athen tragen. In vielen Aufnahme hat er eindringlich zur Schau gestellt, dass eine untadelige Technik, eine expressive Wortausdeutung und eine schöne Stimme jede Opernpartie adeln. Mit Juan Diego Florenz als Marzio in der Aufnahme unter Rousset bewegt er sich absolut auf einem ebenso sehr sehr raren Niveau in eisigen Höhen. Die junge Mezzosopranistin Adriana Bignagni Lesca als Arbate hat zwar nur eine Arie zu absolvieren, nutzt die Gelegenheit aber, um mit ihrer schlank geführten, eleganten Stimme einen gute Bühne zu geben. 

Die goldenen Klammer über all den virtuosen Gesangskünsten bildet das wohl mit Abstand aufregendste Dirigat dieser Oper auf Tonträger. Was Marc Minkowski mit seinem Originalklangensemble “Les Musiciens du Louvre” aus dieser Partitur an glitzernden Leuchtraketen abzischen lässt, wie er das Äußerste an Rasanz und tiefem Sentiment aus der unglaublichen Partitur des 14-jährigen Mozart holt, ist atemberaubend. 

Melomanen aller Länder und Zonen freut Euch: Anhören und genießen! Was Besseres findet ihr nicht. 

Kleiner Hinweis: Michael Spyres hat dem Vernehmen nach ein neues Album mit Barockarien (und dem Orchester Il Pomo d’oro) bereits im Kasten, veröffentlicht soll es 2022 werden. 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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