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CD WOLFGANG AMADEUS MOZART „LUCIO SILLA“ – Laurence Equilbey und das Insula Orchestra; ERATO

13.04.2022 | cd

CD WOLFGANG AMADEUS MOZART „LUCIO SILLA“ – Laurence Equilbey und das Insula Orchestra; ERATO

Franco Fagioli als Star in einer erheblich gekürzten, dafür umso lebendigeren Live-Aufnahme dieses erstaunlichen Opernwurfes des 16-jährigen Komponisten

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Die Diskographie zu Mozarts für das Teatro Regio Ducale in Mailand geschriebener Opera seria „Lucio Silla“ um einen jungen römischen Diktator, der zum Schluss die Menschlichkeit entdeckt, ist überschaubar, aber sängerisch durchwegs hochkarätig. Nach Leopold Hagers ungekürzter Einspielung (3,31 Stunden) für Philips aus dem Jahr 1970 mit Peter Schreier, Arleen Auger, Julia Varady, Edith Mathis, Helen Donath und Werner Krenn und dem Mozarteum Orchester Salzburg (die Aufnahme ist wie so vieles derzeit leider nicht auf Tonträgern erhältlich) nahm Nikolaus Harnoncourt 1989 ein als Referenz geltendes Album wieder mit Peter Schreier in der Titelrolle, in weiteren Rollen mit Edita Gruberova, Cecilia Bartoli, Dawn Upshaw, Yvonne Kenny und dem Concentus Musicus Wien für Teldec auf. Mit 2,34 Stunden Spieldauer ist diese für mich beim Wiederhören ziemlich formell und steif-heroisch wirkende Aufnahme erheblich gekürzt. Später haben die Dirigenten Netopil, Bolton und Minkowski „Lucio Silla“ szenisch aufgeführt. Mitschnitte davon sind auf DVD erschienen. Adam Fischer hat bei dacapo vor über 20 Jahren mit dem Danish National Radio Symphony Orchestra wiederum eine ebenfalls viel beachtete Aufnahme vorgelegt.

Für die neue Aufnahme der französischen Dirigentin Laurence Equilbey mit ihrem Originalklangensemble Insula Orchestra trat man im Juni 2021 auf die Bühne und vor die Mikrofone. Es ist eine hervorragende Aufführung gewesen, mit nur etwas über zwei Stunden Spieldauer aber eine Art „Reader‘s Digest“ Version. Wie auf Harnoncourts Live-CD wurde die Partie des Aufidio weggelassen. Bei den Rezitativen hat der Rotstift gewütet. Wer aber so wie ich gerne auf lange Rezitative verzichtet, wird seine Freude an dem kompakt, schwungvoll geschmeidig musizierten Live-Mitschnitt haben. 

Wie bei Equilbeys Aufnahme von Glucks „Orfeo ed Euridice“ ist der Star im „neuen“ „Lucio Silla“ der argentinische Countertenor Franco Fagioli in der Rolle des Cecilio, ursprünglich für den Kastraten Venanzio Rauzzini komponiert. Genauso quirlig, temporeich und energiegeladen mit einem Touch von vokaler Überdrüber-Effekthascherei wie Cecilia Bartoli bei Harnoncourt, liefert Fagioli ein stupendes Feuerwerk an Koloraturen, Verzierungen, hochdramatischem Aplomb und furiosem Ausdruck. Cecilios wutentbrannte Arie im zweiten Akt „Quest’improvviso tremito“, wo der verbannte, aber heimlich nach Rom zurückgekehrte gescheiterte Verschwörer sich entschließt, Lucio Silla zu ermorden, um seine Braut zu befreien, kann als typisches Beispiel der mit allen technischen „Gemeinheiten“ gespickten Opera seria Gurgelartisterien dienen. Das Publikum freut’s, wenn es so stupend gesungen wird wie in den Aufführungen von La Seine Musicale. Fagioli in Sachen Virtuosität, endlos gesungenen Phrasen, Tonumfang und Beweglichkeit in nichts nach steht die Giunia der jungen russischen Koloratursopranistin Olga Pudova. Ilse Eerens als Celia und mit etwas Abstand Chiara Skerath als Cinna werfen sich ebenso mit großem Können und jugendlicher Frische in ihre anspruchsvollen Soli und die kunstvoll arrangierten Ensembles.

Die Titelpartie ist mit dem italienischen Tenor und Pavarotti-Schüler Alessandro Liberatore besetzt. Im April 2016 hat er die Partie in einer konzertanten Produktion aus dem Théâtre des Champs-Elysées im Theater an der Wien gesungen. Auf der CD überzeugt Liberatore mit einem virilen, fein granulierten Tenor, der genügend Metall und Biss in der Mittellage hat, um das vielschichtige Rollenporträt des Tyrannen in allen Facetten bis zur finalen Begnadigung Cecilios und der eigenen Abdankung wunderbar expressiv zu gestalten.

Einen möglichen Grund, aus dem uns heute gerade diese frühe Mozart-Oper so begeistert und berührt, erklärt Laurence Equilbey so: „Mozart bricht mit den gängigen Regeln der Opera seria und bringt die Leidenschaften und Qualen der menschlichen Seele, ihre Verwirrung und ihre offenen Fragen mit Tiefgang und Intensität, aber dennoch auch mit Beweglichkeit, Leichtigkeit und unendlicher Anmut zum Ausdruck. Die kühnen und subtilen Modulationen der Stimmen, die kunstvolle Orchestrierung und die feierlichen Einwürfe des Chors machen dieses Werk zu einem Vorläufer der Ästhetik der Romantik.“

Laurence Equilbey dirigiert „Lucio Silla“ mit raschen, stets flüssigen Tempi, voller Spannung und Lust am Musizieren. Die Vorwärtsschleife, die humanistisch aufgeklärte Botschaft des Stücks zu verdeutlichen, scheint sie stets im Auge zu behalten. Wer die Lesart der Laurence Equilbey mit derjenigen von Nikolaus Harnoncourt von vor über 30 Jahren vergleicht, kann so etwas wie eine spezifische Weiterentwicklung der historisch informierten Aufführungspraxis ausmachen. Mit erklecklich weniger Ecken und kantiger Artikulation wie aus der Pionierwerkstatt Harnoncourt, ist Equilbeys Mozart ein Ereignis an mediterranem Temperament, gefühlvoll gewebten langsamen Arien, strategisch goldrichtig gesetzten Rubati, Accelerandi bzw. Ritardandi, generell an verblüffender Leichtigkeit und nobler Eleganz. Der Farbenreichtum und die emotionale Intensität des Orchesters bereiten den Stimmen einen feinteilig gemusterten Kaschmirklangteppich. Auf der anderen Seite bilden die Instrumentalisten den dramatisch konzertierenden Counterpart zu all den Vokalgirlanden und ausgeklügelt raffiniertem Zierrat der Gesangslinien.  

https://www.warnerclassics.com/release/lucio-silla mit einem kurzen Video https://www.youtube.com/watch?v=caavchTEFng

Insgesamt ist der neue aus Frankreich kommende Lucio Silla-Mitschnitt unter den Spitzenaufnahmen die spannendste und am glutvollsten musizierte. Melomanen und alle Mozart-Aficionados werden ihre Freude daran haben.   

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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