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CD WOLFGANG AMADEUS MOZART: IDOMENEO – Live-Mitschnitt aus dem Herkulessaal der Münchner Residenz vom Dezember 2023; BR-Klassik

06.09.2025 | cd

CD WOLFGANG AMADEUS MOZART: IDOMENEO – Live-Mitschnitt aus dem Herkulessaal der Münchner Residenz vom Dezember 2023; BR-Klassik

Sir Simon Rattle dirigiert Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

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Eigentlich sollte die Neuproduktion von „Idomeneo“ an der Staatsoper Unter den Linden schon 2020 stattfinden. Corona machte dem Plan einen Strich durch die Rechnung. So erblickte die Inszenierung von David McVicar unter der musikalischen Leitung von Sir Simon Rattle erst am 29.3.2023 das Licht der Bühnenwelt. Schon in Berlin mit dabei: Andrew Staples in der Titelpartie, Magdalena Kožená als Idamante und Linard Vrielink als Arbace. In München fand im Dezember desselben Jahres eine Dreier-Reihe von konzertanten Aufführungen statt, die in den Partien der Ilia und der Elettra mit dem überaus anmutigen lyrischen Sopran der Sabine Devieilhe und der Französin Elsa Dreisig besetzt waren. In Berlin sangen Anna Prohaska und Olga Peretyatko. Der Münchner Live-Mitschnitt, aus den drei Aufführungen gemixt, ist nun bei BR-Klassik erschienen.

Die sorgfältige Befassung des Dirigenten mit der wohl experimentellsten Partitur des Komponisten ist an der stupenden Präzision, dem Detailreichtum in der instrumental-musikalischen Umsetzung, insbesondere den dramaturgisch bestechenden klanglichen und dynamischen Valeurs – von der Hölle zum Himmel und alles dazwischen – auszumachen.

Freilich, vergleicht man die Lesarten etwa von Nikolaus Harnoncourt mit derjenigen von Simon Rattle, so überwältigen bei Harnoncourt zuvörderst die antikisch-tragische Seite der Musik, das unerbittliche Drängen der Rhythmen und besonders die leichenfahle Düsternis im den Tod beschwörenden Chor ‚O voto tremendo‘.

Rattles völlig anders gewichtetes Konzept sehe ich aber ebenso als eine gangbare Art, diesem genialen Amalgam aus fataler Liebe zwischen ‚Kindern‘ feindlicher Lager, trüber Schicksalshaftigkeit, dem Neptun fatalerweise angebotenem Menschenopfer, „dem Schauder jenseitiger Mächte“ (Jörg Handstein), fühlloser Natur und tiefer Humanität Leben und Glaubwürdigkeit einzuhauchen. Vor allem, weil Rattle zu allen vokalen Affekten die tiefenpsychologisch verankerte orchestrale Plastizität findet und in einen stringenten Erzählfaden, ein Meer an wundersamen Nuancen münden lässt. Manierismen oder allzu schrille Zuspitzungen meidet er.

Rattle setzt in diesem Sinne auf die seelisch-poetische Durchdringung der Hauptfiguren, subtil geflochtene Beziehungsgeflechte sowie die instrumental von Mozart innovativ gesetzten Farbabmischungen der Partitur.

Vielleicht auch deshalb, weil ihm bei der Besetzung von Idomeneo mit Andrew Staples und vor allem der Elettra mit Elsa Dreisig unverwechselbar ausdrucksintensive, (hoch)dramatische Tragödienstimmen im Sinne dieses stilistisch an die französische tragédie lyrique angelehnten dramma per musica fehlen? Vor allem der (allzu) hell timbrierte, eher im Lyrischen beheimatete Sopran von Dreisig ist per se wenig geeignet für die Gestaltung der furiosen Eifersuchts- und Racheexzesse der mykenischen Prinzessin, die wie Ilia dem Sohn des kretischen Königs Idomeneo, Idamante, in Liebe zugetan ist. Elettras berühmte Arie im dritten Akt ‚D’Oreste, d’Aiace‘ meistert Dreisig zwar technisch mit Anstand. An die elementare Wucht, die höhnische Beklommenheit der Interpretation der hochdramatischen Edda Moser (EMI-Einspielung unter Hans Schmidt-Isserstedt) sollte man vergleichsweise nicht denken. Heute wäre für so eine Rolle ein Kaliber wie Marina Rebeka gefragt.

Andrew Staples ist ein verzierungsversierter, um Differenzierung bemühter Titelheld. Jedoch bleibt sein Timbre wohl Geschmackssache und scheint die Expansionsfähigkeit seines Tenors im Dramatischen gemessen an den Anforderungen limitiert.

Linard Vrielink überzeugt mit stilistisch erstklassigem Tenor – vom Klang erinnert er ein wenig an Werner Krenn – stößt jedoch in der anspruchsvollen Arie des Arbace ‚Se il tuo duoi‘ an seine Grenzen. Alan Clayton als Oberpriester und vor allem der pastos orgelnde Tareq Nazmi als Stimme des Orakels machen einen exzellenten Job.

Einen Traum an luxuriöser Tongebung und geschmeidiger Phrasierung bietet nach wie vor der leuchtende Mezzosopran von Magdalena Kožená als hinreißender Idamante. Das Duett mit der zart blühenden Stimme von Sabine Devieilhe als hingebungsvoller Ilia im dritten Akt ‚S’io non moro a questi accenti‘ gehört zu den sängerischen Höhepunkten des Albums. Wohllaut pur!

Dazu gesellen sich die überragenden Leistungen von Chor und Orchester (Holz!) des Bayerischen Rundfunkls, aber auch die Freude darüber, mit welcher Hingabe an Klang und Textverständlichkeit gearbeitet wurde. Die Chöre, die im Idomeneo eine tragende Rolle etwa als Mittler der rasenden Naturgewalten spielen, werden von diesem vielleicht weltbesten aller Rundfunkchöre mit einer Intensität, Klangschönheit sowie einer bestechenden Wort-Ton-Balance vorgetragen. In Sachen dynamische Kontraste legt der Chor von fülligen Pianissimi in ‚Placido é il mar, andiamo‘ bis zum existenziellen Aufschrei angesichts eines schrecklichen Meeresungeheuers (‚Qual nouvo terrore‘ bzw. ‚Corriamo, fuggiamo, quel mostro spietato!‘) die Latte für die gesamte Konkurrenz hoch.

Fazit: Eine Neuaufnahme von des 25-jährigen Mozart „Schmerzenskind“ mit kaum überbietbaren Leistungen von Chor und Orchester sowie einer brillanten, zugleich die Stimmen natürlich abbildenden Tonqualität. Die Besetzung kann, ausgenommen die Spitzendarbietungen von Kožená und Devieilhe, nicht auf diesem Niveau mithalten. Auch im Sinne der klaren rollenadäquaten Unterscheidbarkeit der allesamt hellen weiblichen Stimmen hätte das Casting sorgfältiger ausfallen können.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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