CD WILHELM BACKHAUS EDITION – Aufnahmen 1908 bis 1961 mit CD-Premieren aus dem privaten Backhaus-Archiv; Profil/Hänssler
„Ein Künstler von glänzenden Fähigkeiten, eminent musikalisch, unfehlbare Technik“ Richard Strauss 1905 über Backhaus nach einem gemeinsamen Konzert der „Burleske“ in Berlin
Die Benchmarks dafür, was pianistisches Virtuosentum und Bravour bedeuten, sind wohl im 19. Jahrhundert und ausgehenden 20. Jahrhundert festgeschrieben worden. Komponisten und Pianisten wie Frédéric Chopin, Franz Liszt oder Sergej Rachmaninov haben die Kunst der Tastenakrobatik persönlich und in ihren Werken auf die Spitze getrieben.
Auch in den frühen Aufnahmen des deutschen Pianisten Wilhelm Backhaus, die das Label Hänssler u.a. auf einer neuen, 10 CDs umfassenden Edition zusammengetragen hat, ist dieser Geist des gestisch und romantisch Wilden, des musikalisch souveränen, teuflisch sicher exerzierenden Klavierspielers zu finden. Sehr gute Beispiele hierfür finden sich in den „Encores“ auf CD 1 und 2: Die für die Zeit ihrer Entstehung (1923 bis 1928) klanglich erstaunlich frischen und direkten Aufnahmen etwa der Liedbearbeitung von Richard Strauss‘ Ständchen Op. 17, Nr. 2, von „Olaf’s Tanz“ Op. 33, Nr. 2 von Riccardo Pick-Mangiagalli oder des Walzers aus Leo Delibes Ballett „Naila“ in der Bearbeitung von Ernst von Dohnanyi zeigen uns Wilhelm Backhaus auf der olympischen Höhe seines Handwerks. Ein anderer mitreißender Höhepunkt stellt Backhaus‘ Interpretation von Franz Liszts „Ungarischer Rhapsodie“ Nr. 2 in cis-Moll aus der Small Queen’s Hall London aus 1928 dar. Die Zwanziger Jahre markierten für Backhaus ausgedehnte Konzertreisen nach Südamerika 1921 und 1923, in die USA 1923 und nach Australien 1927. 1928 trat er erneut in Salzburg auf.
Zeitgenossen waren voll der Bewunderung für die pianistische Kunst des Tastentigers. Kein Wunder: Der aus Leipzig stammende Backhaus war ein Frühberufener. Als Sechsjähriger spielte er ganz selbstverständlich vom Blatt und konnte Fugen aus Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ aus dem Stegreif von einer Tonart in eine andere transponieren. Das blieb natürlich nicht unbemerkt: Johannes Brahms gab 1895 dem Zehnjährigen, also in dem Jahr in dem Backhaus offiziell Student des Leipziger Konservatoriums wurde, ein aufmunterndes „Zu fröhlichem Anfang“ nebst einem Zitat aus dem B-Dur Klavierkonzert mit auf den Weg. Vier Jahre später ging Backhaus nach Frankfurt, um sich von seinem Idol Eugen d’Albert 25-mal „Unterweisungen von großem Wert“ geben zu lassen. Arthur Nikisch und Hans Richter waren seine ersten Dirigenten. Jurien hoben die kristalline Klarheit seiner Technik hervor. Nebstbei unterrichtete der junge Backhaus an der vom russischen Geiger Adolph Brodsky geleiteten Musikakademie in Manchester.
Ein ganz besonderes Zuckerl in der Box stellen wohl die sagenumwobenen Aufnahmen der Etudes Op. 10&25 des Frédéric Chopin vom Jänner 1928 dar. Gerhard Koch schreibt in einem Artikel mit dem Titel „Monument mit Metronom“, dass Arthur Rubinstein von einer Einspielung genau dieser Werke wegen der Gesamtaufnahme von Wilhelm Backhaus Abstand genommen hätte. Backhaus habe auf so unerhört hohem technischem Niveau gespielt, dass Rubinstein zu viel hätte üben müssen, um mithalten zu können. Vor allem die Etüden Nr. 4 in cis-Moll und Nr. 12 in C-Dur (Op. 10) sowie Nr. 10 in b-Moll und 12 in C-Dur (Op. 25) begeistern mit einer hinreißenden Anschlagskultur und einem irrem Tempo. Allerdings klingt hier Chopin ganz und gar nicht romantisch parfümiert, eher harsch und vielleicht näher an Beethoven. Ich jedenfalls schätze diese an der Struktur der Musik und den Noten orientierte Lesart sehr. Chopin einmal weniger zum Träumen als zum aufmerksam Hinhören.
Die Box ist aber auch aus einem anderen Grund von hohem Interesse. Sie enthält Konzertmitschnitte aus der Carnegie Hall New York vom 3. März 1954 und vom 11. April 1956. Der erste dieser Abende mit einem reinen Beethoven Sonatenprogramm (Sonate in c-Moll, Op. 13 2Pathétique“, Sonate in G-Dur Op. 79, in d-Moll Op. 31, r. 2 „Der Sturm“, in Es-Dur, Op. 81a „Les Adieux“ und in c-Moll, Op. 111 war bislang nicht veröffentlicht. Frau Backhaus hatte die Bänder und Platten 1970 Gerhard Melchert geschenkt. Die Aufnahmen wurden im Keller ihres Hauses mit der Aufschrift „Musterplatten“ gelagert. Nun sind die Sonaten als interessante Ergänzung zu den Studioaufnahmen der DECCA live zu hören. Sie bestätigen die viril kräftige Herangehensweise des Pianisten an Beethoven, aber auch dessen feine Musikalität und schlafwandlerische Sicherheit. Bemerkt sei auch, dass Backhaus mit dem Tempo bisweilen recht frei umgeht. Faszinierend zum Wiederhören ist ebenso Beethovens viertes Klavierkonzert in G-Dur Op. 58 in einer Aufnahme mit dem von Guido Cantelli geleiteten New York Philharmonic. Cantellis energisch zupackendes Dirigat und Backhaus gereifter Altersstil (die Kadenz zum Allegro moderato ist zum Niederknien schön) beschweren ein aufregendes Hörerlebnis.
Die Box enthält auch „Klassiker“ der Backhaus-Diskographie wie die beiden Klavierkonzerte von Johannes Brahms. Das erste mit den Wiener Philharmonikern unter Karl Böhm aus 1952, das zweite ebenfalls mit den Wiener Philharmonikern unter Carl Schuricht aus 1953.
Die letzten beiden CDs sind wieder dem vierten und fünften Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven gewidmet. Beim „Vierten“ hat Ferenc Fricsay das Orchestre de la Suisse Romande in einem Konzert in Montreux am 24.5.1961 geleitet, die Aufnahme des Fünften entstand in Tokio mit dem Tokyo Symphony Orchestra unter Masashi Ueda.
Alle Aufnahmen der Box:
- Mozart: Klavierkonzert Nr. 26
- Beethoven: Klavierkonzerte Nr. 4 & 5 (Nr. 4 in zwei Einspielungen); Klaviersonaten Nr. 5, 8, 14, 18, 26, 29, 32; Sonatine op. 79
- Mozart / Backhaus: Ständchen aus Don Giovanni
- Strauss / Backhaus: Ständchen op. 17 Nr. 2
- Pick-Mangiagalli: Olafs Tanz op. 33 Nr. 2
- Chopin / Backhaus: Romanze aus Klavierkonzert Nr. 1
- Kreisler / Rachmaninoff: Liebesleid
- Delibes / Dohnanyi: Walzer aus Naila (in zwei Einspielungen)
- Liszt: La Leggierezza; Sommernachtstraum-Paraphrase; Liebestraum Nr. 3; Ungarische Rhapsodie Nr. 2; Waldesrauschen
- Brahms: Klavierkonzerte Nr. 1 & 2; Paganini-Variationen op. 35 (in zwei Einspielungen); Variationen op. 21
- Rachmaninoff: Prelude op. 3 Nr. 1
- Weber: Presto aus Klaviersonate Nr. 1
- Schubert / Backhaus: Militärmarsch Es-Dur
- Chopin: Etüden Nr. 1-12; Impromptu Nr. 4; Berceuse op. 57
- Moszkowski: Caprice espagnol op. 37
- Mendelssohn / Hutcheson: Scherzo aus Ein Sommernachtstraum
- Albeniz: Triana
- Haydn: Klaviersonate Nr. 52; Variationen f-moll H7 Nr. 6; Fantasie H7 Nr. 4
- Zugaben von Chopin, Schumann, Schubert, Mozart, Liszt, Brahms
Dr. Ingobert Waltenberger