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CD „VOYAGE“ – MARINA REBEKA singt französische Klavierlieder. Prima Classic

Komponiert in französischer, russischer, deutscher und italienischer Sprache bzw. im toskanischen Dialekt

14.10.2022 | cd

CD „VOYAGE“ – MARINA REBEKA singt französische Klavierlieder, komponiert in französischer, russischer, deutscher und italienischer Sprache bzw. im toskanischen Dialekt; Prima Classic

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Die lettische Primadonna Marina Rebeka, in erster Linie bekannt für ihre intensiven Interpretationen dramatischer Verdi-, Donizetti- oder Bellini-Heroinen, ist eine vielseitige Künstlerin. Während ihre nächsten Opernengagements sie im Oktober/November dieses Jahres nach Berlin an die Staatsoper Unter den Linden (Leonora in „Il Trovatore“) und im Jänner/Februar 2023 an die Mailänder Scala führen (Elena in „I Vespri Siciliani“), gilt ihre aktuelle Schallplattenveröffentlichung im Eigenlabel Prima Classic französischen Liedraritäten u.a. der Komponistinnen Marie Jaëll, Cécile Louise Chaminade und der auch als Mezzosopranistin und Salonniere in die Musikannalen eingegangenen Pauline Viardot. Aber auch Lieder von Camille Saint-Saëns, der Pauline seine Oper “Samson et Dalila“ widmete, von Henri Duparc, Gabriel Fauré, Charles Gounod oder Maurice Ravel finden sich auf dem vom Alexandre Dratwicki (Palazetto Bru Zane) musikgeschichtlich betreuten Album.

Rote Linien durch das anspruchsvolle wie schöne Programm finden sich in der Vielfalt an Sprachen, in denen diese von Atmosphäre und Klangzauber her unterschiedlichen, aber dennoch typisch romantischen „Mélodies“ geschrieben wurden, der kompakten Zeitspanne ihrer Entstehung von 1860 bis 1890 als auch der Idee des Orients, der die Fantasie der Poeten und Tonsetzer an der Schwelle zur Belle Epoque begeisterte. Träume, in exotische Länder zu entfliehen, Fremdes zu erfahren, die eigene Identität zu hinterfragen oder sich kosmopolitische Lebensweisen anzueignen, gab es schon damals.

Während Jules Verne 1872 seinen tapferen Phileas Fogg in 80 Tagen um die Welt schickte, machte sich Camille Saint-Saëns ein Jahr zuvor daran, mit „Désir de l’Orient“ seine Sehnsucht nach dem Orient als einem fernen Wunderland zwischen China und Bosporus, geographisch einigermaßen unpräzise, in Noten zu setzen. Marie Jaëll wiederum beschwört in „Rêveries des Orientales“ die Vision maurischer Städte, glänzend und wundersam im Nebel eines herbstlichen Sonnenuntergangs. Die musikalische Reise führt uns weiter vom Balkan (Cécile Chaminade: „Chanson slave“) an die Ufer des Ganges (Charles-Marie Widor „Chanson Indienne“).

Was wäre eine imaginierte Reise ohne erotische Illusionen? Zumindest im prüden 19. Jahrhundert war es noch verwegen, wenn Baudelaire und mit ihm Henri Duparc (L’Invitation au voyage“) ihren wollüstigen Fantasien nachhingen. Gabriel Faurés „Les Roses d’Ispahan“ und Maurice Ravel mit „La flûte enchantée“ erforschen weibliche Sehnsüchte, zu damaligen Zeiten ein vehement tabuisiertes Thema.

Ausflüge ins Italienische unternahm Camille Saint-Saëns mit „La madonna col bambino“ und „Alla riva del Tebro“. Die größte Überraschung des Albums aber sind die fünf deutschen Lieder „Dein“, „Der Sturm“, „Die Vöglein“, „Ewige Liebe“ und „Die Wang‘ ist blass“ der Elsässerin Marie Jaëll. Die große Pianistin, die durch Vermittlung von Saint-Saëns als eine der ersten Frauen in die Pariser Société des compositeurs aufgenommen wurde, kann in diesen Liedern ihre künstlerische Nähe zu Franz Liszt nicht leugnen. Vor allem die hochdramatische Ballade „Der Sturm“ nach einem eigenen Gedicht steht ganz in der Tradition des deutschen romantischen Kunstlieds.

Die CD schließt mir sechs in russischer Sprache geschriebenen Liedern von Pauline Viardot. Basierend auf Lyrik u.a. ihres glühenden Verehrers Ivan Turgenew („Seit jenem Augenblick, seit jener schicksalhaften Minute, gehörte ich nur noch ihr.“ Turgenew sollte dem Ehepaar bis nach Paris und Baden-Baden folgen und Pauline an die 500 Briefe schreiben) bezeugen diese Werke eine der ungewöhnlichsten Dreiecks-Künstler-Liebesgeschichten des 19. Jahrhunderts.

Marina Rebeka ist eine vorzügliche dramatische Sopranistin, ein veritabler Spinto mit der Befähigung zu raffinierten Belcanto-Verzierungen, die in ihrer Liedinterpretation kein Hehl daraus macht, dass die Opernbühne den Mittelpunkt ihres Künstlertums ausmacht. Mit ihrer charaktervollen, herb-süßen Stimme – vom Typus her Renata Scotto nicht unähnlich – versteht sie es, aus allen Liedern dramatische Miniaturen zu formen. Im Legato gelingen Rebeka melancholisch verhangene Töne, die eine ganz eigene Welt lyrischer Introspektion eröffnen. Die Sängerin zeigt sich in allen vier Sprachen gleichermaßen fit, die Textverständlichkeit ist beispielhaft.

Zusammen mit dem alle impressionistischen Feinheiten genüsslich auskostenden und den dramaturgischen Kern der Lieder auffächernden französischen Pianisten Mathieu Pordoy ist ein besonderes Album entstanden, das von scheuer Verzückung bis zum zügellosen heroischen Ausbruch alle Ausdrucksnuancen zulässt.

Für die Lied- und die Opernfraktion und allem, was dazwischen liegt, gleichermaßen zu empfehlen.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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