CD „Vis à vis“ – Kammermusik von J.S. BACH; HEINRICH I.F. von BIBER und JOHANN PACHELBEL – Georg Kallweit Violinen, Tabea Höfer Violinen, Leo van Doeselaar Orgel, Walter Rumer G Violone; RAUMKLANG
Deutsche Geigenmusik aus dem 17. Jahrhundert mit oder ohne Skordatur
Biber von Bibern, wie er sich später nennen durfte, war ein böhmischer Geigenvirtuose und Komponist, dessen Hauptwerk, die Missa Salisburgensis, mit vier instrumentalen und zwei vokalen Chören im Stil der venezianischen Mehrstimmigkeit an prachtvoller barocker Klangentfaltung nicht zu überbieten ist.
Auch seine über einem durchgehenden Basso continuo gehaltenen Stücke für eine oder mehrere Violinen sind Musterbeispiele an raffinierter Kunstfertigkeit. Hierbei spielte die sogenannte Skordatur eine tragende Rolle. Dabei wird eine Abweichung von der üblichen Violinstimmung nach oben und unten mittels einer Über- bzw. Unterspannung der Saiten erreicht. Die daraus resultierenden exotisch anmutenden Obertonmischungen ergeben ein geschärfteres bzw. molligeres Klangbild und verhelfen dem Publikum zu ungeahnten musikalischen Adventure-Reisen. Die Skordatur wurde überdies dazu verwendet, technisch schwierige Phrasen zu vereinfachen. Die Grifferleichterungen wiederum ermöglichten eine noch ausgefinkeltere Virtuosität, gerade bei Doppelgriffen und komplexen Akkordbrechungen.
Biber schrieb seine 15 Mysteriensonaten für den Salzburger Fürsterzbischof Maximilian Gandolf Graf von Kuenburg. In den Sonaten, von denen eine jede in einer anderen Grundstimmung der Violine gehalten ist, werden die „Rosenkranz-Geheimnisse“ in poetischer Tonmalerei anschaulich zelebriert.
Die hier aufgenommene Sonate IV handelt von der Darbringung im Tempel in der Stimmung a – d′ – a′ – d. Dazu haben Urban Strings die „Schutzengel“ Passacaglia in einer von Georg Kallweit erstellten Version für Violine (Oberstimme) und Viola (Passacaglia-Thema) programmiert.
Das gewichtigste Stück des Albums ist Bibers Partia VI aus der Sammlung „Harmonia Artificioso-Ariosa Diversimodè accordata“ gewidmet. Diese Partia für zwei Violinen und Basso continuo ist das einzige Stück der siebenteiligen Sammlung, in dem die zwei Violinen in Normalstimmung zu vernehmen sind. Der Verfremdungseffekt in Aria und den 13 Variationen entsteht daraus, dass eben die übrigen sechs Partias in Skordatur notiert sind.
Vom Nürnberger Johann Pachelbel hören wir die Choralpartita „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ aus „Musicalische Sterbens-Gedancken“. Es handelt sich um die Ausarbeitung eines Chorals von Samuel Rodigast in neun Variationen. Mit einer außergewöhnlichen Skordatur wartet die Partie II in c-Moll für zwei Violinen und Basso continuo auf, weil die zwei unteren Saiten der Violine um eine Quart höher gestimmt sind als gewöhnlich.
Bleibt noch Johann Sebastian Bach, dessen Sonata BWV 1038 für Traversflöte, Violine in Skordatur und Basso continuo hier für 2 Violinen und Basso continuo dargeboten wird. Dazu das Präludium und die Fuge in G-Dur BWV 550 für Orgel solo, die Leo van Doeselaar nutzt, um die Finessen der Orgel abseits der simplen Basso continuo Grundierungen zu feiern.
Dank solch großartiger Geiger wie z.B. dem Südtiroler Johannes Pramsohler (der sich mit seinem Ensemble Diderot höchst erfolgreich auf die Spurensuche wenig gespielter Komponisten vor allem der frz. Barockzeit gemacht hat) oder Georg Kallweit, Konzertmeister und Solist der Akademie für Alte Musik Berlin, können wir heute den erstaunlichen Ideenreichtum der Geigenmusik des 17. und 18. Jahrhunderts im Konzert oder auf Tonträgern in top audiophiler Qualität neu erleben.
Der Titel der CD rührt von der Postierung der Musiker vis à vis, also von Angesicht zu Angesicht. Die intensivere kommunikative/reaktive Dichte oder die Nutzung der akustischen Möglichkeiten der etwa in einer Kirche auf verschiedenen Emporen platzierten Musiker kann besondere Echoeffekte bei Ostinato und Variationenwerke erzeugen und damit das Hörerlebnis spannender und abwechslungsreicher gestalten. Erstaunlich auch, welch fast orchestrale Wirkung von nur zwei Geigen ausgehen kann. Welchen verschmitzten Spielwitz, immensen Farbenreichtum und (Strich-, Bogen-)Techniken Georg Kallweit und Tabea Höfer mitbringen, ist besonders bei Bibers Partia VI zu bewundern.
Als Continuoinstrument der Aufnahme diente die von Bernhard Edskes 2017 erbaute Orgel der Lutherse Kerk in Groningen.
Ein Album zum Entschleunigen, Wecken von Aufmerksamkeit abseits greller Marktschreierei und zur Revitalisierung alltagsgeschädigter Ohren.
Programm der CD
Heinrich Ignaz Franz Biber: Partia VI für 2 Violinen und Basso continuo aus „Harmonia Artificioso-Ariosa Diversimodé accordata“; Mysterien-Sonate IV „Die Darstellung im Tempel“ für 2 Violinen und Basso continuo sowie „Schutzengel“-Passacaglia für Violine und Viola
Johann Pachelbel: Choralpartita für Orgel solo „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ aus „Musicalische Sterbens-Gedancken“; Partie II c-moll für 2 Violinen discordato und Basso continuo aus „Musicalische Ergötzung“
Johann Sebastian Bach: Triosonate BWV 1038 für 2 Violinen und Basso continuo; Präludium und Fuge in G-Dur, BWV 550 für Orgel solo
Dr. Ingobert Waltenberger