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CD/VINYL: REQUIEM von ANDRÉ CAMPRA und von W.A.MOZART – Lohnenswerte Neuerscheinungen bei harmonia mundi

08.10.2024 | cd

CD/VINYL: REQUIEM von ANDRÉ CAMPRA und von W.A.MOZART – Lohnenswerte Neuerscheinungen bei harmonia mundi

„Da der Tod, genau zu nehmen, der wahre Endzweck unsers Lebens ist, so habe ich mich seit ein paar Jahren mit diesem wahren, besten Freunde des Menschen so bekannt gemacht, dass sein Bild nicht allein nichts schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel beruhigendes und tröstendes! Mozart in seinem Brief an seinen kranken Vater vom 4. April 1787

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André Campras Requiem bietet den Aufhänger für ein höchst interessantes Album über die Chorschule von Notre Dame de Paris im 17. Jahrhundert. Sébastien Daucé hat sich mit seinem Ensemble Correspondances auf die Erkundung von Werken der sogenannten Maîtrise der Kathedrale gemacht, die Schulungs- und Praxisstätte von Vokalisten, Organisten, Kapellmeistern und Komponisten war. Während des Grand Siècle verfügte die Maîtrise über zwölf Chorknaben und an die 20 weitere Choristen. Die Durchlässigkeit zur musikalisch bedeutenderen Chapelle du Roi war insoweit gegeben, als deren Leiter aus dem Fundus der hervorstechendsten Talente der Maîtrise schöpfen konnte. 1622 war das Bistum Paris zum Metropolitan-Erzbistum avanciert, ungefähr um die Zeit, als neo-gallikanische Ideen dem König der französischen Kirche eine gewisse Unabhängigkeit von Rom attestieren wollte. Dazu kam, dass Ludwig XIII. 1638 Frankreich unter den Schutz von Gottesmutter Maria gestellt hatte, als Dank vor allem für die Geburt des Thronfolgers Louis Dieiudonné, der später als Ludwig XIV in vielfacher Gestalt die politische als auch die Kulturgeschichte Frankreichs und Europas beeinflussen sollte. Das alles führte dazu, dass die Kathedrale Notre Dame ein bedeutendes Zentrum für geistliche Musik wurde.

Das vorliegende Album spürt Spitzenschöpfungen wichtiger Musiker nach, die die Maîtrise im 17. Jahrhundert leiteten und in dieser Funktion nicht zuletzt mit eigenen Kompositionen das französische Musikschaffen nachhaltig prägten. Alle Stücke sind von den damals üblichen Stilen von erbaulichen Chorälen bis zu hochkomplexer Kontrapunktik getragen. Insbesondere weisen sie den Stempel des prononciert polyphonen Stils der Spätrenaissance aus, wie er beispielsweise in der alle Schwerkraft hinter sich lassenden Doppelfuge „Tristis est anima mea“ von Pierre Robert zu erleben ist. Nach und nach wurden die vielstimmigen a cappella Chorkompositionen mit Instrumentalbegleitung noch effektvoller gestaltet.

Im Zentrum des Albums steht das siebensätzige Requiem von André Campra. Er war der letzte aktive Maître de musique in Notre Dame im zu Ende gehenden 17. Jahrhundert. Wie Thomas Leconte in seinem detailreichen Beitrag für das Booklet ausführt, war Campra jedoch eher der Mann für die Bühne, wie die Erfolge seines opéra ballet „L’Europe galante“ oder seiner tragédie lyrique „Idomenée“ zeig(t)en. Das führte dazu, dass er aus seinen Funktionen von Notre Dame im November 1700 entlassen wurde. Sein Requiem ist wahrscheinlich noch am Ende seines Engagements an der Kathedrale St.-Étienne von Toulouse entstanden. Es beschäftigt einen fünfstimmigen Grand Chœur, einen daraus gestellten zwei- bis dreistimmigen Petit Chœur, drei Vokalsolisten sowie eine als „Symphonie“ bezeichnete Instrumentalgruppe (Streicher, Flöten).

Das formidable Ensemble Correspondances, das eine Vokal- und eine Instrumentalgruppe unter der musikalischen Leitung des Cembalisten und Organisten Sébastien Daucé vereint, ist dieser Musik ein begeisternder und fachkundiger Anwalt. Vor allem die Sängerinnen und Sänger in den Stimmgruppen Dessus, Bas-dessus, Hautes-contre, Tailles, Basses-tailles und Basses gehen mit historisch begründeter Vibratosparsamkeit, instrumentaler Stimmführung, exzellenter Artikulation und lupenreiner Intonation einem Klangideal nach, das nichts weniger als engelsrein zu bezeichnen, keine Untertreibung wäre. Kontemplativ- mediative Partien wechselt ab mit einer kunstvoll montierten Polyphonie, die den Hörer in ein transzendentaleres Universum katapultiert.

Auf demselben exorbitanten Niveau wie das Campra Requiem erleben wir die vier präsentierten Teile der Missa sex vocum „Domine salvum fac regnem“ (Kyrie, Gloria, Sanctus, Agnus Dei) des Francois Cosset. Dass er ein schwieriger unangenehmer Charakter gewesen sein soll, ist der Musik natürlich nicht anzumerken, führte aber dazu, dass auch er, wenngleich wesentlich früher, 1646, aus den Diensten der Maîtrise entlassen wurde. Die nur skizzenhaft vorhandene Instrumentierung der Messe durch Sébastien de Brossard wurde von Sébastien Daucé komplettiert.

Auf dem wegen des hohen Repertoirewerts und der stilistisch gepflegten, intimen Interpretation empfehlenswerten Albums sind noch Stücke von Jean Veillot („Ave verum corpus“; „Domine salvum fac regem“), Pierre Robert (Motette „Christe redemptor omnium“; „Templi sacratas“) und Jean Mignon (Antiphon „Procul maligni caedite Spiritus“) zu hören.

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Was die Neuaufnahme des Mozart-Requiems anlangt, so beschreiten Raphaël Pichon und das Ensemble Pygmalion neue Wege. Das durch Michael Haydns „Missa pro defuncto Arichiepiscopa Sigismondo“ musikalisch angeregte Requiem und dessen Entstehung strotzen vor Mythen und außermusikalischen Legenden. Dieses Requiem eint Geistliches wie Profanes, fordert uns Hörerschaft zu einem regelrechten Tango mit dem Tod auf. Es lässt die Gedanken an die Schwelle in eine andere Seinsdimension schaurig bis trostreich fließen. Bei der Konstruktion und Instrumentierung (die Wahl von Bassetthörnern, Fagotte zu Beginn) dürften auch die Grundgedanken der Freimaurerei mit ihrem Streben nach bürgerlicher Gleichheit, Toleranz und Menschenliebe prägend gewesen sein.

Raphaël Pichon, der in seinem Album dem Weg der persönlichen Erinnerungen des Komponisten nachspürt und die Musik des Requiems durch passende frühere Mozart-Kompositionen unterbricht und anreichert, sieht dieses unvollständig gebliebene, von Franz Xaver Süssmayr universell ergänzte Requiem „nicht als aussichtslose Klage, sondern als durch einen Überschuss an Leben alsr größtmögliche Feier der menschlichen Existenz, mit der die Gemeinschaft der Lebenden dargestellt wird.“

Das Album, inspiriert von der mit Romeo Castellucci für das Festival von Aix-en Provence erarbeiteten szenischen Version auf der Bühne des Théâtre de l’Archevêché 2019, beginnt und endet mit dem von einer Kinderstimme (verkörpert vom großartigen, 2012 geborenen Chadri Lazreq) gesungenen gregorianischen Choral „In Paradisum“, gefolgt vom Kanon „Wie kurz ist unser Lebenslauf“ KV 228/515b. Das „Misere mei“ in d-Moll (ursprünglich Kyrie) KV 90 des fünfzehnjährigen Wolfgang, vor die Ouvertüre zum Requiem gesetzt, verblüfft damit, dass es eindeutig melodische Parallelen mit der Einleitung zum zwanzig Jahre später entstandenen Requiem aufweist.

Weitere Stücke, die musikalische Spiegelungen an das „Requiem“ offenbaren, sind die in ihrer unfasslichen Unheimlichkeit an den Komtur in Don Giovanni bzw. das ‚Dies irae‘ erinnernde Arie „Ne pulvis et cinis“ aus der Bühnenmusik von „Thamos, König in Ägypten“, ein Solfeggio in F-Dur als Vorahnung auf das Kyrie der Messe in c-Moll, KV 427, (wieder vom Knabensopran Chadri Lazreq veredelt), die anonyme Bearbeitung des ‚Adagio‘ aus der „Gran Partita“ KV 361 in Form einer Motette („Quis te comprehendat“, KV Anh. 110) bzw. das Kirchenlied „O Gottes Lamm“, KV 343 Nr. 1.

Die Requiem-Teile selbst werden von Pichon, dem Chor und Orchester von Pygmalion in flüssigen (im ‚Dies irae‘ rasenden) Tempi vorgetragen, stets das Theatralische und die ungeheure Emotionalität der Musik betonend. Die Fugen schnurren wie ein Uhrwerk. Das Solistenensemble ist mit Ying Fang (Sopran), Beth Taylor (Alt), Laurence Kilsby (Tenor) und Alex Rosen (Bass) jungstimmig besetzt und agiert selbst in den Ensembles ungewöhnlich ausdrucksintensiv. Besonderes Augenmerk wurde auf die Artikulation gelegt. Der Chor als wichtigster Akteur gibt eine Lektion darin, wie vokale Perfektion, Klangfülle mit äußerster (menschlicher) Wahrhaftigkeit einhergehen kann. Im ‚Confutatis‘ etwa wechseln sich die brutal-hart einsetzenden Männerstimmen mit den elegisch schwebenden Frauenstimmen besonders kontrastreich ab.

Ich hatte bei dieser Requiem-Aufnahme die seltene Gelegenheit, die Formate CD und Vinyl parallel hören und miteinander vergleichen zu können. Und wieder einmal zeigt sich die fulminante akustische Überlegenheit der Vinyl-Version in Bezug auf Räumlichkeit und Brillanz des Klangs, aber auch Dramatik und Spannung, auf das deutlichste. Dazu sparen die Plattenhüllen nicht mit hervorragenden, teils großformatigen Fotos von den Aufnahmen.

Fazit: Zwei legendäre Requiem Vertonungen in einem jeweils ungewöhnlichen, aber nichtsdestotrotz überzeugenden Rahmen, in kluger Programmatik aufbereitet und auf das eindringlichste musiziert! Was will man mehr? Die Aufnahme des Mozart Requiems entstand im September in der Grand Manège de Namur. Sie ist die bewegendste und musikalisch spannungsreichste, die ich kenne.

P.S.: Wenn wir schon bei Erinnerungen sind: Die persönlich wichtigste Reminiszenz als Chorsänger in Wien war außer der Mitwirkung beim Karajan-Konzert/Aufnahme im Musikverein (DGG) das Gedächtniskonzert im Memoriam Leonie Rysanek am 7.3.1999 aus Anlass des ersten Todestages der wienerischen, so überaus menschlichen Primadonna. Das Konzert fand passend zum Geburtsbezirk der Rysanek in der Kirche Erdberg mit dem Lehrer a capella Chor, dem Amadeus Ensemble unter Walter Kobera statt. Ich kann das Mozart-Requiem seither nicht hören, ohne an diese wunderbare Sängerin zu denken.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

 

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