CD/Vinyl: DANIIL TRIFONOV spielt Musik von Peter Iljitsch Tchaikovsky; Deutsche Grammophon
Märchen, Kindheit und Jugend, ihre Träumereien, ihre Dämonen
Daniil Trifonov ist der Extrembergsteiger unter den Pianisten. Er ist sportlich, konzentriert, von einer im Felsen überlebensnotwenigen Präzision im Griff, einer unfehlbaren daktilen Sicherheit, gepaart mit Instinkt und Respekt vor der Materie. Und ist der schroffe Stein dem eigenen Körper in der Bewegung einmal organisch einverleibt, kann der kühle Kopf und der tastende Geist dem pulsierenden Herzen Platz machen. Der Blick auf Weite und Schönheit der Schöpfung eröffnet für alles und jeden neue Perspektiven und Fantastereien.
Der in Nischni Nowgorod, ehemals Gorki, geborene, in New York lebende Musiker setzt seine Aufnahmetätigkeit mit einem programmatisch einzigartigen Programm fort. Es geht in den rund um die „Szenen einer Kindheit“ des Kinderalbums Op. 39 arrangierten Programm um Persönliches, das früh reifte und vom Komponisten (er war zur Zeit des Aufschreibens der Stücke 38 Jahre alt) und Interpreten einer nachschöpferischen, retrospektiven, die einbezogenen Gefühlsebenen bis zur Neige auslotenden Schau unterzogen wird.
Für Tchaikovskys Biografisches und Musik verbindende Inspirationen beruft sich Trifonov primär auf die überlieferten Erinnerungen an dessen „liebe Mutter“ Alexandra Tchaikovskaja und das Trauma ihres Hinscheidens infolge einer Cholera-Erkrankung 1854. Da war der Bub gerade einmal 15 Jahre alt.
Die in dieser Sammlung leichter Stücke à la Schumann zusammengefassten 24 Stimmungsbilder reflektieren freilich aus der Sicht eines Erwachsenen punktuelle Erlebnisse aus Kindheit und Jugend. Die Nummern ‚Mama‘ und ‚Ammenmärchen‘ etwa sieht Trifonov ganz von der Reminiszenz an die Mutter geprägt. Trifonov greift diesen Ansatz des Berichterstatters aus einer anderen Lebensgalaxie auf und erfüllt diese teils an russische Volksweisen angelehnten Miniaturen mit luftiger Poesie, fliegenden Sehnsüchten, aber zudem vereinzelt mit Schwermut und Trauer.
Generell fällt auf, dass Trifonov in diesem Album weniger den mit unverschämter Leichtigkeit agierenden Tastenzauberer, den technischen Wunderwuzzi präsentiert, sondern als Ausdruckskünstler sondergleichen die Klangrede, den lyrischen Gehalt der Preziosen auf ihre feinsten Stimmungsnuancen hin abklopft. So erkundet er unerhörte Dimensionen des Klavierspieles und erweitert ihre Erzählmöglichkeiten.
Das trifft besonders auf die Klaviersonate in cis-Moll, Op. 80, zu. Zu Tchaikovskys Lebzeiten unveröffentlicht, schildert diese seltener aufgeführte „Konservatoriumssonate“ das temperamentvolle und überschießende Erleben des damals 24-jährigen Studenten im letzten Studienjahr in St. Petersburg. Die höllische Rasanz der Interpretation des Allegro vivo (4. Satz) erinnert an Gerhard Bronners „Der Wilde auf seiner Maschin‘“ (…‚zwar hab ich ka Ahnung wo ich hinfahr‘, aber dafür bin i g’schwinder durt!‘).
Trifonov meidet es, die Empfindungen des jungen Tchaikovsky und dessen kreatives Genie nivellierend zu vergolden und in einer verklärten Balance erkalten zu lassen. Der Pianist weiß um die Hitzigkeit, die breiten Schwankungen der Gefühle, die oftmals und überwiegend himmelhochjauchzende Begeisterung, aber auch um die unvermeidliche Anziehungskraft des Blickes in den Abgrund in diesem Alter. Daraus resultieren eine verinnerlichte Intimität der Wiedergabe, als auf der anderen Seite ein überaus grenzgängerisches Wogen und Atmen sowie vielleicht als auffälligstes Merkmal eine extrem kontrastreiche Tempogestaltung. Plus etwas, was Trifonov noch vor anderen Kollegen auszeichnet: Keine Note wird vernachlässigt, sondern deren jede einzelne Bedeutung in einen dramaturgischen Gesamtzusammenhang gebracht.
Die vom Eis- bis zu Vulkangraden eigenwillige Tempogestaltung führt den Pianisten in den schnellen Passagen zu Kanten und bisweilen karstiger Schroffheit. Das Publikum darf sich dabei gefahrlos an der möglichen Sturztiefe weiden, darf sich von der unheimlich gläsernen Klarheit von Trifonovs vielleicht als abenteuerlich empfundenen Vortrag forttragen lassen.
Mein persönliches Lieblingsstück auf dem Album ist das „Thema und die zwölf Variationen plus Coda in F-Dur“, Op. 19/6. Trifonov lernte das Stück über eine Aufnahme Van Cliburns vom ersten Tchaikovsky Wettbewerb 1958 kennen. 1873 als letzter Teil der „Six Morceaux“ konzipiert, entwickelte sich bald ein konzertierendes Eigenleben. Die Variationen gehen auf ein Thema zurück, das atmosphärisch an Robert Schumann erinnert. Explizit wird der Konnex zu Schumann in der Variation XI. hergestellt, dessen ‚Allegro brillante‘ Tchaikovsky als ‚Alla Schumann’ benannte. Trifonov: „Als ich dieses Stück zum ersten Mal hörte, fand ich sowohl Tchaikovskys eigenes, volksliedhaftes Thema als auch den Einfallsreichtum unerwarteter Formen, Stile und Kontraste in den Variationen ausgesprochen reizvoll. Das Stück ist keine Formübung, sondern eine Reihe von kühnen Experimenten, wobei jede neue Kombination der Ideen vor Überraschungen und Intensität nur so strotzt.“ Bei der/dem in völliger Besessenheit abgespulten Coda/Presto glaubt man wirklich, der Teufel oder dessen Großmutter sei hinter einem her. Da kulminieren Aberwitz, Spielwitz und schräger Humor aufs Trefflichste zu einem Gipfel an pianistischer Bravour.
Trifonov huldigt Tchaikovsky und dem offenbar verehrten russischen Pianisten Mikhail Pletnev mit dessen Bearbeitungen des Balletts „Dornröschen“. Pletnev hatte 1978 als 21-jähriger Musik aus „Dornröschen“ in einer Konzertsuite für Klavier zusammengefasst. 1978 markierte zudem das Jahr, in dem Pletnev den Ersten Preis und die Goldmedaille beim Sechsten Internationalen Tchaikovsky Wettbewerb in Moskau erhielt. 2011 war es Trifonov, der diesen renommierten Preis abräumte. Trifonov schwärmt in höchsten Tönen über das Arrangement, in dem das Klavier wie ein Orchester behandelt wird und jede Nummer „ihren Wurzeln in Märchen und Tanz treu bleibt.“
Meine Bewunderung für diesen aus meiner Sicht derzeit interessantesten, technisch unfehlbarsten und interpretatorisch mutigsten Pianisten hat sich durch dieses folkloristische und spätromantisch funkelnde Tschaikowsky-Album noch einmal gesteigert bzw. sich bestätigt. Trifonov steht für kompromisslos individuell erfühlte Lesarten ohne Sentimentalität, und eine brillante Virtuosität ganz in den Diensten des Ausdrucks. Seine stupende Anschlagvariabilität von zartest gehaucht bis kraftvoll ehern zupackend dürfte ohnedies beispiellos sein. So ist das Album ein Abbild allgemein gültiger Emotionen geworden, die mit Kindheit, Märchen und Jugend verbunden sein mögen, aber in der Spiegelung reifer Seelen ein weiteres Universum umfassen. Es gibt den Blick frei auf einen unbeschwerteren, weder tragisch umflorten noch pathetischen Tchaikovsky.
Dringliche Empfehlung!
Dr. Ingobert Waltenberger