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CD VIKTOR ULLMANN „DER KAISER VON ATLANTIS“ – Live Aufnahme aus dem Prinzregententheater München vom 10. Oktober 2021; BR Klassik

23.06.2022 | cd

CD VIKTOR ULLMANN „DER KAISER VON ATLANTIS“ – Live Aufnahme aus dem Prinzregententheater München vom 10. Oktober 2021; BR Klassik

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Der junge Grazer Dirigent Patrick Hahn als erster Gastdirigent leitet das Münchner Rundfunkorchester

Das Spiel in einem Akt „Der Kaiser von Atlantis oder Die Tod-Verweigerung“ Op. 49 hat der österreichische Komponist, Dirigent und Pianist Viktor Ullmann 1943/44 nach einem eigenen Libretto unter Mitarbeit von Peter Kien im Ghetto Theresienstadt geschrieben.

Das sagenhafte Atlantis? Der Kaiser von Atlantis erklärt einen Krieg von allen gegen alle. Sein Verbündeter, der Tod, soll das Schlachten anführen. Aber der Tod will nicht und pfeift dem Kaiser was. Da sehen wir ihn nun, den Tod im Ausgedinge in einer alten k.u.k. Uniform als irgendwie jämmerlich sentimentale und trotzige Gestalt auf einer Parkbank. Der magere Geselle trauert alten Zeiten nach, wo die Landsknechte und Soldaten noch festliche Kleidung speziell für ihn trugen. Harlekin wiederum, mit dem Tod wie ein altes Pensionistenpaar auf dieser Holzbank über die Vergangenheit sinnierend, denkt in typischer Commedia dell’arte Manier an vergangene Abenteuer mit Frauen, den romantisch milchigen Mond und Wein.

Alles ist aus den Fugen, die Empfindung von Zeit und die Erinnerungen, die pervertierten Lebensumstände in einem Reich, wo Kaiser Overall einsam in seinem Palast sitzt und zum Krieg aufstachelt. Via Lautsprecher erteilt er unsichtbar in einem Bunker hockend seine Befehle. Als Symbol und gleichzeitig Ausflucht aus dieser entmenschlichten Macht-Maschinerie des Grauens setzen Kein und Ullmann das Aufeinandertreffen des Soldaten mit dem Mädchen Bubikopf. Zuerst schießen die beiden aufeinander. Weil der alte und gekränkte Tod aber streikt und keiner dabei stirbt, erhalten sie eine zweite Chance, die sie flugs für die Liebe nutzen. Da kann der regimetreue Trommler tun was er will, der Nahkampf der beiden „Soldaten“ ist nun Besserem gewichen.

Die Arbeitsniederlegung des Todes hat natürlich noch eine andere Auswirkung: Den Verfall der Macht des Kaisers. Wer sollte sich noch vor ihm fürchten, wenn ohnedies alle alles überleben. Im Stück wird das als Krankheit bezeichnet: Die Soldaten können nicht mehr sterben. Aufständisch wird der Kriegsbefehl verweigert, doch der Kaiser will weitermachen. Da macht ihm der Tod ein Angebot: Der Tod wäre bereit, seine Tätigkeit wiederaufzunehmen, wenn der Kaiser der erste sei, ihm zu folgen. Der Kaiser nimmt Abschied.

Das „Spiel in einem Akt“ reflektiert also nicht nur das Lagerleben zur Zeit des Nationalsozialismus, es spiegelt mit dem Hinwies auf den Ausbruch einer seltsamen Krankheit im 2. Bild, in deren Folge Tausende mit dem Leben ringen, nicht nur unsere pandemischen Zeiten, sondern zurückgreifend auf Karel Capeks mahnendes Gleichnis im Stück „Die weiße Krankheit“ auch jegliches Aufkeimen von staatsautoritären Bestrebungen.

Die untypische „Kammeroper“ besteht zu zwei Dritteln aus Musiknummern und zu einem Drittel aus gesprochenen Texten, die teils – wie der Prolog – als Melodram konzipiert sind. Der Arnold Schönberg und Alois Hába Schüler Ullmann greift in „Der Kaiser von Atlantis“ stilistisch auch auf Vorbilder wie Stravinsky („Die Geschichte des Soldaten“) oder Kurt Weill zurück. Ullmann knüpft ein großes literarisches und musikalisches Bezugsystem, darüber hinaus gibt es Leitmotive (Nicole Restle). Stilistisch haben wir es mit einem Sammelsurium an collageartig aneinander gereihten Formen zu tun: Melodram, Rezitativ, Arie, Duett, Terzett, Tanzmusik, Jazz, Lied, Choral, Fuge.

Die Münchner Aufführung fand unter der künstlerischen Leitung des jungen Grazer Dirigenten Patrick Hahn statt. Mit seiner Anstellung ab der Saison 2021/22 in Wuppertal ist er jüngster Generalmusikdirektor Deutschlands. Zugleich übernahm Hahn die Position als Erster Gastdirigent beim Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra und beim Münchner Rundfunkorchester. Der „Kaiser von Atlantis“ ist seine erste CD-Einspielung mit dem Münchner Edelklangkörper. Hören Sie, was Hahn dazu zu sagen hat: https://www.youtube.com/watch?v=cHSMOAWJKs4

Patrick Hahn wird mit präziser Zeichengebung der Vielfalt der musikalischen Ausdrucksweisen auf faszinierende Art und Weise gerecht. Die Besetzung mit Juliana Zara (Bubikopf, ein Soldat), Christel Loetzsch (Der Trommler), Johannes Chum (Harlekin, ein Soldat), Adrian Eröd (Kaiser Overall), Lars Woldt (Der Lautsprecher) und Tareq Nazmi (Der Tod) geht in dieser surrealen Versuchsanordnung deklamatorisch eindringlich und stets mit der adäquaten Botschaft auf der Zunge ans Werk. Ullmanns musikalisch für seine Parabel so knapp wie scherenschnittartig gezeichneten Nummern werden von ihnen spröde, ironisch, polternd, scharftaktig, heiter apokalyptisch bis zärtlich verträumt realisiert. Dem Münchner Rundfunkorchester gelingt es, die forsche Politsatire weniger mit Schönklang, als mit einem die Stimmen eindringlich akzentuierenden Instrumentenreigen zu erfüllen.

Die Welturaufführung fand spät, nämlich an der Niederländischen Oper Amsterdam erst am 16. Dezember 1975 statt. Die Diskographie ist mager. Die berühmte Aufnahme der DECCA in der Serie „Entartete Musik“ aus dem Jahr 1994 mit Kraus, Berry, Vermillion, Mazura, Lippert, dem Gewandhausorchester Leipzig unter der musikalischen Leitung von Lothar Zagrosek ist längst aus dem Katalog gestrichen. Also sind die einzigen Alternativen zur Neueinspielung mit dem Münchner Rundfunkorchester eine Aufnahme aus dem Jahr 2015 des Labels IBS mit Pierre-Yves Pruvot, Wassyl Slipak, Anna Wall, Natalie Perez, Sebastien Obrecht, dem Orchestre Musique des Lumieres unter Facundo Agudin, mitgeschnitten beim Festival Musiques des Lumière bzw. eine CD des französischen Ensembles Voix Etouffees und dessen Dirigenten Amaury du Closel.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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