CD „Variations sérieuses“ – Lilit Grigoryan spielt Musik von Bach (arr. Busoni), Beethoven, Mendelssohn, Bizet und Szymanowski – Orchid Classics
Auf ihrer zweiten Solo-CD geht die armenische Pianistin Lilit Grigoryan dem Thema Variationen in der Klavierliteratur von Bach bis Szymanowski nach. Vielfach gelten Variationen als technische Handwerksübungen, Akademismen ausgesetzten Bemühungen, ein Thema kunstreich zu variieren, „ob als Studie zur Verfeinerung der Satztechnik oder mit dem Bestreben, das Potenzial der unterschiedlichen Elemente einer Melodie tiefer auszuloten.“ Allerdings bedarf es, wie Johanna Wyld klug anmerkt, „eines großen Könnens, damit ein Variationswerk nicht allein ein bunter Reigen thematisch verbundener Einzelsätze bleibt, sondern sich zu einem stimmigen Gesamtwerk schließt, in dem das Ausgangsmaterial über das bloße Verändern hinaus entwickelt und weiter ausgeführt wird, um die ihm innewohnende Komplexität darzulegen.“ Genau dieses Kunststück gelingt Lilit Grigoryan. Die für ihre subtile und ausdrucksbetonte Vortragskunst hochgerühmte Pianistin kann schon in der legendären, aus 64 Variationen bestehenden Chaconne in d-Moll BWV 1004 von Johann Sebastian Bach, in einer Bearbeitung für Klavier von Busoni, alle Trümpfe ihres technisch stupenden Spiels bestens zur Geltung bringen: eine stets dem Gehalt der Musik geweihte Virtuosität, das Ziehen raffinierter Fäden durch die Variationengeflechte, das Ergründen übergeordneter Bögen und Freilegen innerer thematischer Kohäsion. In den 32 Variationen über ein eignes Thema in c-Moll von Ludwig van Beethoven besticht das Spiel von Grigoryan durch eine atemberaubende Dramatik in der Durchführung, atemlos hastende Tempi gleichermaßen wie expressive Legati und dennoch eine überwältigende Schlichtheit im Vortrag.
Die musikalische Reise geht weiter mit den das Album titulierenden „Variations sérieuses“, Op. 54 von Felix Mendelssohn. Er schrieb das Variationenwerk 1841 als Hommage an Beethoven. Der Wiener Verleger Pietro Mechetti hatte in der Absicht, Geld zur Errichtung eines Beethoven-Denkmals in Bonn zu sammeln, ein „Beethoven Album“ mit eben diesem Beitrag von Mendelssohn, aber auch mit solchen von Liszt und Chopin, zusammengestellt. Lilit Grigoryan brilliert in diesem technisch so überaus anspruchsvollen Werk mit klarem Anschlag, eine an Märchen erinnernde Erzählkunst und federnder Leichtigkeit im dahin stürmenden musikalischen Fluss. Im Gegensatz dazu geben sich die „Variations chromatiques de concert“ von Georges Bizet scheinbar ganz schlicht. Die Haupttonart c-Moll und der großzügige Gebrauch von Chromatik stellen zwar Querbezüge zum Vorbild Beethoven und dessen oben genannten „32 Variationen“ her, allerdings kann Bizet sein opernhaftes Temperament nicht leugnen. Hier wiederum wartet Lilit Grigoryan mit einer ganzen Palette an „orchestralen“ Farben auf und erkundet, wie Bizet das beabsichtigte, feinsinnig alle Möglichkeiten des Pedalgebrauchs, ohne jemals ins Exzessive zu gleiten. Ins 20. Jahrhundert entführen uns die Variationen in b-Moll, Op. 3, von Karol Szymanowski. Das Frühwerk des polnischen Impressionisten ist Artur Rubinstein gewidmet. Die Variationen warten mit einer beeindruckenden Vielfalt an Stimmungen auf: „von der hymnischen Einfachheit der achten zum virtuosen Perpetuum mobile der abschließenden zwölften Variation, von der wehmütigen Mazurka der dritten bis zum ruhigen Walzer der neunten Variation.“ (Peter Quinn). Auch hier weiß Lilit Grigoryan alle stilistische Vielfalt gekonnt zu nutzen, den Gang durch diesen fantastisch klingenden Palast an verschiedenen Atmosphären in ein eindrückliches Hörerlebnis zu transponieren.
Eine Lehrstunde pianistischer Kunst abseits jeglicher Effekthascherei, zudem höchst vergnüglich und kulinarisch ansprechend zu genießen.
Dr. Ingobert Waltenberger