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CD „VARIATIONEN“ – SARAH BETH BRIGGS spielt Zyklen von Mozart, Beethoven, Mendelssohn und Brahms; Avie

24.05.2023 | cd

CD „VARIATIONEN“ – SARAH BETH BRIGGS spielt Zyklen von Mozart, Beethoven, Mendelssohn und Brahms; Avie

Ratio und Fantasie – Sarah Beth Briggs‘ kristallin klare Traumwelten

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Variationen sind spannender und vergnüglicher als ihr Ruf. Beschränkt sich der Begriff in der gehobenen Gastronomie ziemlich eintönig auf Rezepte um eine einzige Zutat, so nutzten Komponisten die Variationenform rund um ein meist entlehntes musikalisches Thema mannigfaltig: Da reichen die weit gestreuten Motivlagen vom tastentigernden Imponiergehabe über bestrickende Lehranleitungen, vom innovativen Hasardieren bis hin zu korsettgeschnürten, im Innersten intimen, bekenntnishaften Seelenmalereien.  

Mozart beispielsweise wollte mit den neun Variationen KV 573 über ein Menuett von Jean-Pierre Duport König Friedrich Wilhelm II. in Potsdam beeindrucken. Daher wählte er ein Thema des Cellisten und königlichen Kammermusikdirektors in Potsdam Duport und kreierte darüber zuerst einmal sechs Variationen (die letzten drei soll er später in Wien ergänzt haben). Natürlich kommt da ein wenig der Gedanke der Zurschaustellung in Sachen kompositorischer Meisterschaft und virtuoser Beherrschung von formalen Techniken ins Spiel. Aber eben nicht nur Academia. Die Moll-Variation VI entführt den Hörer weit über jeglichen anmutigen Liebreiz hinaus, während die Variation VIII als ein unbeschwerter ‚moment die joie‘ impulsive Energie vermittelt.

Beethoven wiederum schrieb seine in Sachen Fingertechnik und Anschlag so ergiebigen sieben Variationen über „God save the king“ (1803) für pianistisch flotte Amateure. Seine Fährtensuche führt von hymnischer Erhabenheit über die himmlisch nickende Variation V con espressione über einen witzigen Alla marcia Satz zu einem lustvoll wie atemberaubend rasanten Finale in der Variation VII. Beethoven wollte mit den vergnüglich-einfallsreichen Bearbeitungen des royalen Themas der Anekdote nach den Briten zeigen, was für einen Schatz sie in „God Save the King“ haben. Wir finden, die Umsetzung ist ihm brillant und zielgenau gelungen.

Bilden Variationen nicht an sich ein faszinierend gleichnishaftes Abbild unseres Lebens selbst? Wir stellen als einzelne Individuen ein Thema, das die göttliche Vorsehung und sonst schicksalsrelevante genetische oder sozialisationsbedingte Einflüsse – für den meisten Spaß, aber auch Blödsinn, sind wir natürlich selber verantwortlich – in unendliche Abwandlungen, Umwege und Schnörkel transformiert. Von überirdisch verzückt bis teuflisch makaber ist da alles drin.

Beethovens „Variationen über ein Originalthema“ Op. 34 passen gut als Exempel. Sie sind schon insofern etwas ganz besonders, als jede Variation in einer anderen Takt- und Tonart steht. Es handelt sich nicht nur um eine „Tonartenästhetik Beethovens in kleinem Format“, wie Paul Bekker das 1911 formulierte. Beethoven wollte sein Publikum mit der radikal neuen Strickart maximal überraschen, ja mit seinen Einfällen in musikalisch extreme Klimazonen vordringen, wobei Schematisches nur als Hülle für existenzielle Widerparts dient.

Das größte und mit 17 Variationen umfänglichste Werk des Albums ist Felix Mendelssohns „Variations sérieuses“ Op. 54 gewidmet. Hier kommt Beethoven ins Spiel, weil aus den Verlags-Erlösen ein Denkmal des Komponisten in Bonn errichtet werden sollte. Mendelssohn nahm als Ausgangspunkt ein eigenes Thema, das er jenseits jedes Tastenexhibitionismus zu einem höheren künstlerischen Ziel variierte. Kontrapunktisch-mathematische Unerbittlichkeit, harmonisch Bach-Barockes mischen sich in diesem formidablen Zyklus mit frühromantischer Schwärmerei, die dämonischen Abgrund und furioses Ungestüm in sich trägt.

Als Abschluss serviert Sarah Beth Briggs die 13 Jahre nach den „Variations sérieuses“ entstandenen „Variationen“ in fis-Moll, Op. 9 von Johannes Brahms nach einem Thema von Robert Schumann aus dessen „Bunte Blätter“ Op. 99. Es sind ergreifende Zeugnisse des persönlichen Schmerzes und der bewegenden Unrast des 21-jährigen Brahms angesichts von Schumanns Selbstmordversuch im Februar 1854. Die zitatenreichen Abwandlungen verlangsamen sich entgegen aller Zeit-Gebräuche verlaufend hin zum Ende.

Sarah Beth Briggs ist ein erstaunlicher pianistischer Wurf gelungen. Mit gläsern federndem Anschlag und atmosphärisch fluide legt sie die Strukturen der Variationen, sozusagen die Baupläne der Notenarchitektur, im Ringen um deren humanistische Botschaften frei. Gleichzeitig weiß sie für jeden, in Tempo, Rhythmus und Harmonie so eigenständig paraphrasierten Zyklus einen genuin passgenauen Bogen zu spannen.

Bemerkenswert und nicht ohne Risiko ist das getragene Tempo manch langsamer Sätze, wie etwa die Variationen VI und VIII von Mozart. Hier erinnert mich Beth-Briggs Spiel an Rosalyn Turecks wundersame Bach-Exegese. Beth-Briggs setzt die von den Tempi her genüsslich ausgekosteten Themen (Beethoven Op. 34) und die verlangsamten Adagios jedoch stets in einen dynamisch reflektierten Kontext mit den raschen Variationenteilen. Da folgen die in markanten Gegensätzen sich erschließenden Proportionen erzählerisch freien Assoziation und wirken doch immer musikalisch stringent. Die britische Pianistin lässt die Tasten elastisch pulsieren, ihre Eleganz im Vortrag erlaubt keinerlei marktschreierische Bravour. Rubati werden sparsam, dafür umso wirkungsvoller platziert, stets hat das organische Atmen der Musik die Oberhand. Unter der formalen Ebene können die Emotionen schon mal fiebrig hochkochen (etwa Mendelssohn Variationen III, VIII, IX), jeder romantische Subkontext bewegt sich innerhalb einer nobel evozierten musikalischen Absolutheit. Der Brahms rührt in dieser zart empfundenen Trauer zu Tränen.

Unbedingt empfehlenswert!

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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