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CD VALERY GAVRILIN: THE RUSSIAN SONGBOOK – MILA SHKIRTIL, St. Petersburger Philharmoniker unter YURI SEROV; NAXOS

08.05.2020 | cd

CD VALERY GAVRILIN: THE RUSSIAN SONGBOOK – MILA SHKIRTIL, St. Petersburger Philharmoniker unter YURI SEROV; NAXOS

Geniestreich eines 25-Jährigen

Erstaunlich viele Komponisten der Sowjetunion haben außerordentlich Originelles hervorbracht. Musik als das vielleicht subtil kreativste Ausdrucksmittel gab dazu nahezu uneingeschränkte Freiheit. Die mutige Inbesitznahme dieser durch kein Dekret bezwingbaren Eigenräume des Individuums in der Schaffung von noch nie gehörten Klängen fiel im Osten auf besonders fruchtbaren Boden. Ein Beispiel dafür ist Valery Alexandrovich Gavrilin.

Das „Russische Heft“ hat Gavrilin als junger noch unbekannter Musiker geschrieben. Der in der Provinz geborene Musiker mit schwerer Familiengeschichte war Musiklehrer, Musikkritiker, Autor und Komponist, mit einem Wort ein Hansdampf in allen stilistischen Gassen und musikalischen Genres. Opern, Ballette, Orchesterwerke, Kantaten, Kammermusik, Chor- und Vokalwerke, Popmusik, nichts davon fehlt in seinem umfangreichen Ouevre. Gavrilin schrieb vier große Vokalsymphonien, Suiten, Klaviermusik, Lieder und Romanzen sowie Chöre, er belieferte 38 Mal diverse Theater in Leningrad und ersann für Lenfilm Studio 11 Mal dramatischer Musiken.

Gavrilins Biographie ist mit tragischen Schicksalsschlägen gespickt. Sein Vater, ein Lehrer, fiel als Freiwilliger in der Nähe Leningrads 1942. Die Mutter war Leiterin eines Kinderheims und wurde 1950 inhaftiert, der elfjährige Valery kam in ein Waisenhaus im Dorf Kovyrino nahe Vologda im Norden von Moskau. Ich will mir gar nicht vorstellen, was das im täglichen Leben bedeutet hat. Erst nach dem Tod Stalins 1953 wurde seine Mutter rehabilitiert. 1953 bis 1964 genoss er Unterricht am Konservatorium in Leningrad in den Fächern Klarinette, Klavier und Komposition. Gavrilin graduierte in Komposition und Musikwissenschaften.

Der Komponist Gavrilin ist ein hochinteressanter Fall. Stilistisch ein gemäßigt Moderner, wurde er als Vokalmusikschaffender vor allem in die Nachfolge von des sowjetisch russischen Starkomponisten Georgi Sviridov eingeordnet. Gavrilins „Russisches Notebook“ mit acht Orchesterliedern aus dem Jahr 1965 ist jedoch hochgradig eigenständig. Es verbindet eingängige Melodien mit virtuosen gesanglichen Anforderungen, das Ganze kunstvoll folkloristisch stilisiert, dabei äußerst expressiv, mit neoklassischen und scharfen rhythmischen Akzenten durchsetzt. Unerwartete Harmonien, heftige Modulationen, Polyrhythmik und polyphone Strukturen bestimmen das Klangbild.

Im „Yunost Magazin“ beschrieb der Komponist 1968 selbst seinen Zyklus kurz so: Es gab einen zehnjährigen Jungen, der starb in einer Leningrader Schule. Die Lieder gehen davon aus, dass es irgendwo ein Mädchen geben müsse, das ihn geliebt hätte. Der Erinnerungs-Zyklus auf traditionelle Texte handelt von verlorener Liebe, Leben und Tod.

Das „Mädchen“ in Gavrilins Zyklus ist natürlich eine starke leidenschaftliche Russin. Das bringt uns besonders die Mezzosopranistin Mila Shkirtil mit ihrer intensiven Interpretation nahe. Der enorme Tonumfang der Kompositionen und die emotionale Extremlage bringen es mit sich, dass Shkirtil nicht nur auf Schönklang setzt, sondern auch den existenziellen Aufschrei wagt. Beeindruckend! Die Orchesterfassung der Lieder schuf Leonid Rezetdinov im Jahr 2018. 

Das Album wird ergänzt durch Ausschnitte (10 von 20 Nummern) aus dem Ballett „Anyuta“. Die Handlung basiert auf diversen Geschichten von Tschechov, insbesondere „Anna am Halse“ und erzählt von einem Mädchen aus armer Familie, die einen gut bestallten Beamten heiratet. 1986 im Theater San Carlo in Neapel szenisch uraufgeführt, haben wir es mit typischer russischer Ballettmusik voller Walzer und Sentiment zu tun.

Fazit: Eine sehr empfehlenswerte CD, auch die Qualität der St. Petersburger Philharmoniker unter Yuri Serov überzeugt voll und ganz!

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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