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CD VALENTIN SILVESTROV „REQUIEM FÜR LARISSA“ – Chor des Bayerischen Rundfunks, Münchner Rundfunkorchester unter Andres Mustonen; BR Klassik

05.08.2022 | cd

CD VALENTIN SILVESTROV „REQUIEM FÜR LARISSA“ – Chor des Bayerischen Rundfunks, Münchner Rundfunkorchester unter Andres Mustonen; BR Klassik

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Zum 85. Geburtstag des Komponisten am 30.9.2022

Veröffentlichung 2.9.2022

Valentin Silvestrov, eigentlich ausgebildeter Bauingenieur, zählt zu den größten lebenden Komponisten (Europas). Das „Requiem für Larissa“, das ich für die ergreifendste Requiem-Vertonung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gleichauf mit derjenigen von Benjamin Britten halte, hat der ukrainische Tonsetzer 1997-99 unter dem finsteren Eindruck des Todes seiner jungen Frau vertont. Totenglocken, dunkelgraue Chorgesänge und rätselhaftes wie aus dem Erdinneren kommendes Orchesterdonnern sind immer wieder durchsetzt von Lichtpartikeln und tröstlichen Hoffnungsklängen (Agnus Dei).

Der lateinische Text erklingt in Bruchstücken, der eigenen Bedeutung ungewiss. Die vom Chor knapp wie atemlos vorgetragenen Worte deuten – freischwebend wie in einem unendlichen Universum verloren – Unsagbares an. Der Chorpart weicht immer wieder instrumentalem Aufwogen und Posaunendrohen. Aus von den Elementen aufgepeitschter stürmischer Gischt erhebt sich die meditativ Tragik verströmende Tonsprache im Jüngsten Gericht des „Tuba mirum“ (wo auch die erste Sinfonie zitiert wird) zu Synthesizer gestützten, hochdramatischen Kulminationspunkten, Aufschreien von gequälten Seelen gleich, seien sie im Jenseits oder hier unter der Last einer stöhnenden Trauer zurückgelassen. Hie und da lässt Richard Wagners Götterdämmerung („Mannenchöre“) aus der Ferne grüßen.

Das „Lacrimosa dies illa“ mit dem berückend schönen Altsolo, archaiisch mächtigen Chören, einem liebestrunkenen Tenorsolo scheint in schwankenden Wellen aus längst vergangener Zeit anzulanden, beschwört disparate Empfindungen, gebrochen zwischen einem haltlosen Jetzt und einer durch Schmerz zerbrochenen Vergangenheit.

Im vierten Satz greift Silvestrov auf das Gedicht ‚Der Traum‘ aus dem Zyklus „Stille Lieder“ (Nr. 5 Welt, Leb wohl, du harte, undankbare Erde“) des ukrainischen Dichters Taras Shevchenko zurück. Ein sanftes Tenorsolo, begleitet von der Harfe, betont die vokal-tonal inselnd schlichte Lyrik.

Trotz aller apokalyptisch bleischweren Ahnungen und galaktischer Kälte ist dieses Requiem rar, aber doch von zarter Intimität (Klänge der Glasharmonika) durchdrungen, als Silvestrov darin in Erinnerungen an die gemeinsamen Jahre mit bzw. an musikalische Inspiration, ausgelöst durch die Liebe zu Larissa Bondarenko, der Muse und Musikwissenschaftlerin an seiner Seite, taucht.

 Der Chor des Bayerischen Rundfunks (Einstudierung Tanja Wawra), das Münchner Rundfunkorchester und die fünf Solisten (Priska Eser Sopran, Jutta Neumann Alt, Andreas Hirtreiter Tenor, Wolfgang Klose Bass, Michael Mantaj Bass) unter der musikalischen Leitung des estnischen Dirigenten Andres Mustonen sind in dieser erst jetzt veröffentlichten hervorragenden Live-Aufnahme aus der Herz-Jesu Kirche München vom 17.6.2011 eindringliche Mittler von brennender Verlustqual und der individuellen Apokalypse eines künstlerischen Menschen. Der Tod des nächsten Menschen wirkt bei Silvestrov als Auslöser für ein der gesamten Menschheit zugängliches musikalisches Kunstwerk der Sonderklasse. Als Metapher steht diese so eindringliche, nicht zuletzt das Heute spiegelnde Musik wohl für alle, die unter welchen Umständen auch immer an Verlust, Einsamkeit und Verlorensein leiden.

Nachwort: In die Musik emigriert war er schon lange, im März dieses Jahres ist der 84-jährige Komponist mit Tochter und Enkelin vor dem Krieg von Kiew nach Berlin geflohen. Der weißrussische, in Deutschland lebende Dirigent Vitali Alekseenok hat ihn von der polnisch ukrainischen Grenze abgeholt.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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