CD TRIO KARÉNINE „LA NUIT TRANSFIGURÉE“ – Werke von Franz Liszt, Robert Schumann und Arnold Schoenberg; Mirare
„Was will ich? Was bin ich? Was erwarte ich von der Natur. Jegliche Ursache ist verborgen, trügerisch jeder Zweck; alle Gestalt verändert sich, alle Dauer vergeht…“ Obermann
Das Trio Karénine verdankt seinen Namen der Titelheldin aus Tolstois Roman „Anna Karenina“. Das französische Trio (Paloma Kouider Klavier, Fanny Robilliard Violine und Louis Rodde Cello) will mit dieser Patin wohl signalisieren, dass es mit seiner Musik nach der extremen Leidenschaft und der Unbedingtheit strebt, den auch die berühmte Russin auszeichnete.
Auf ihrer neuen CD, die ihren Titel aus der als drittem Werk präsentierten „Verklärten Nacht“ von Arnold Schoenberg in der Bearbeitung für Klaviertrio von Eduard Steuermann bezieht, werden ausschließlich Transkriptionen deutsch-österreichischer Stücke der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts präsentiert.
Zu einem faszinierenden Kuriosum der Musikgeschichte zählen die „Sechs Studien in Canonischer Form für den Pedalflügel“ Op. 56 von Robert Schumann. Der bereits schwer von Geisteskrankheit geplagte Komponist befasste sich zunehmend mit der Technik des Kontrapunkts, insbesondere im Werk von J.S. Bach. Die ideale Brücke zu schlagen zwischen einer strengen musikalischen Formensprache und überbordenden romantischen Gefühlswelten, danach strebte auch der Bearbeiter Theodor Kirchner. Der Organist, Pianist und Dirigent verfasste selber über 1000 Werke für Klavier, transkribierte aber auch höchst erfolgreich Vorlagen seiner Kollegen Schumann und Brahms.
Franz Liszt wiederum legte fast dreißig Jahre nach der Komposition der „Années de pélerinage“ Hand an das daraus stammende Stück „La Vallée d’Obermann“ und machte aus der pianistischen Beschreibung des Schweizer Alpentals „Tristia“, eine Bearbeitung für Klaviertrio mit einer neuen Einleitung. Die literarische Vorlage für das Werk lieferte der Briefroman „Oberman“ des französischen Schriftstellers Étienne-Pivert de Sénancour (vgl. einleitendes Zitat) und Lord Byrons Ode „Childe Harolds Pilgrimage“.
Der 25-jährige Arnold Schoenberg verewigte seine Liebe zu Mathilde von Zemlinsky in seinem Sextett „Verklärte Nacht“. Klanglich noch ganz der Spätromantik verpflichtet, flocht der junge Schoenberg ein dichtes Streichergeflecht zu Richard Dehmels Versen “Zwei Menschen gehen durch kahlen, kalten Hain; der Mond läuft mit, sie schau‘n hinein. Der Mond läuft über hohe Eichen, kein Wölkchen trübt das Himmelslicht, in das die schwarzen Zacken reichen. Die Stimme eines Weibes spricht.“… Die Aufgabe des Bearbeiters war damit wesentlich undankbarer als vergleichsweise desjenigen, der das Klangspektrums einer Klavierstimme zu erweitern hat. Keine Instrumentierung stand an, sondern die Komprimierung auf drei Instrumente, was dem für den Schoenberg-Kreis wohl wichtigsten Pianisten Eduard Steuermann, der auch bei der Uraufführung von Pierrot Lunaire mitwirkte, spektakulär gut gelang. Kunsthistorisches Interesse kommt auch der Familie des in die USA emigrierten Steuermann zu: Seine Schwester Salka war mit dem Wiener Schriftsteller und Regisseur Berthold Viertel verheiratet, die jüngste Schwester Rosa mit dem Schauspieler, Regisseur und Intendanten Josef Gielen. Der Dirigent und Komponist Michael Gielen ist Steuermanns Neffe.
Das Trio Karénine, vielleicht das aktuell weltbeste Klaviertrio, setzt den auf Tonträgern bereits mit Ravel, Fauré, Tailleferre, Dvořák, Shostakovich, Weinberg und Schumann zielgenau eingeschlagenen Weg mit diesem Album konsequent fort. Dabei ist ihnen programmatisch die Klammer zwischen dem 19. Jahrhundert und dem frühen 20. Jahrhundert wichtig. Das Trio übt einen technisch ausgereiften Stil, dem im emotionalen Kondensat immer etwas Improvisatorisch-Spontanes anhaftet. Ein Grund, warum den drei Fabulösen gerade diese Bearbeitungen so gut liegen, dürfte auch darin zu finden sein, dass es ihnen merklich um die Quintessenz der musikalischen Aussage, den atomaren Kern der Komposition geht. Dem liegen bekanntlich bei genügender Anreicherung auch enorme (Spreng-)Kräfte zugrunde, was umgemünzt auf die Interpretation eine wie jungpflanzlich sprießende Frische und klanglich eruptive Naturgewalt bedeutet. Dazu gesellt sich ein sinnlich sanglicher Ton der Streicher und die stupende Virtuosität von Paloma Kouider am Flügel.
Kammermusikalisch ergiebiger kann der Frühling nicht gefeiert werden.
Dr. Ingobert Waltenberger