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CD TOIVO TULEV: MAGNIFICAT – lettischer Radiochor, Tallinn Chamber Orchestra – NAXOS

02.10.2018 | cd

CD TOIVO TULEV: MAGNIFICAT –  lettischer Radiochor, Tallinn Chamber Orchestra – NAXOS

 

Manche, die sich für die archaisch-sakral verhaftete (baltische) Avantgarde in Verbindung  mit Chormusik interessieren, werden Komponisten wie den Esten Arvo Pärt, vielleicht noch den lettischen Landsmann Tulevs, Eriks Esenvalds (vgl. Naxos CD Chorwerke „The Doors of Heaven“) oder den ukrainischen Tonsetzer Valentin Silvestrov mögen. Das neue exzellente Album von Naxos gibt jetzt Gelegenheit, das Spektrum zu erweitern. Auf Tonträgern ist der in entlegenen Wäldern lebende Toivo Tulev im Gegensatz zu den anderen erwähnten Stars kaum repräsentiert. 2008 hat harmonia mundi mit dem Estnischen Philharmonischer Kammerchor – in dem der Komponist selber gesungen hat – unter der Leitung von Paul Hillier eine CD mit Ersteinspielungen von Tulev herausgebracht. Seither nichts mehr.

 

Für Freunde klangexperimenteller Chormusik im Spagat zwischen Askese und opernhafter Fülle ist die neue CD eine Fundgrube und noch dazu ganz erstklassig musiziert. Tulev nimmt den Hörer mit auf seinen ganz eigenen Weg, wo expressive vokale und instrumentale Klangtexturen sich in originellen Paarungen begegnen, spiegeln und durchdringen.

 

Kaspars Putniņš, Leiter des lettischen Radiochors, übertrifft mit seinem berühmten Ensemble nochmals alle Erwartungen an Klangreinheit, perfekter Intonation und Ausgewogenheit der Stimmgruppen. Mikro- und obertonale Techniken tragen zu einer unverwechselbaren Atmosphäre bei. Gemeinsam mit dem Countertenor Ka Bo Chan, den Sopranistinnen Ieva Ezeriete und Inga MartinsoneVambola Kriguk und Heigo Rosin am Schlagzeug, Virgo Veldi am Altsaxophon und Age Juurikas am Orgelpositiv sowie dem Tallinn Chamber Orchestra gelingen beeindruckende Wiedergaben. Sie umgarnen den Hörer mit spiritueller Energie sowie kühnen Klangrätseln. Darüber hinaus sind die Stücke voll von affektiven Wechselbädern, zuweilen heiter oder beschwörend, gewaltsam, explosiv oder streng. Stratosphärisch hoher Streichersound und wilde Schlagzeugsoli tauchen etwa das Magnifikat in ein völlig ungewohntes Licht.

 

Man sollte vorsichtig sein, Tulev in eine Schublade mit andern baltischen Künstlern zu stecken. Im Gegensatz zu Pärt etwa sind Simplizität und esoterische Gregorianik seine Sache nicht. Ihn interessieren fluktuierend komplexe Emotionen, die sich auch musikalisch durchaus drastisch und expressiv ungestüm niederschlagen dürfen. 

 

Die Auswahl auf der CD mit „Summer Rain“, „Legatissimo“. „Tanto gentile“, „Flow my tears“, „I said, Who are You? – He said, You“, in dem auf Worte des Sufi-Mystikers Mansur Al-Hallaj klanglich meditiert wird, und dem großartigen Magnifikat, bietet einen faszinierenden Querschnitt aus Tulevs Schaffen. Vier Weltpremieren sind überdies dabei. Für mich persönlich hielt das Album mit die bereicherndsten Hörerfahrungen der letzten Monate bereit.

 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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