CD „TIS TOO LATE T BE WISE“ – in ihrer Debüt-CD geht das KITGUT QUARTET den Ursprüngen des Streichquartetts nach – harmonia mundi
Das 2015 in Frankreich von der Geigerin Amandine Beyer gegründete Streichquartett spielt auf historischen Instrumenten mit Darmsaiten. Auf ihrer ersten CD haben sie sich Musik von Henry Purcell, Matthew Locke, John Blow und Joseph Haydn vorgenommen. So will das Kitgut Quartet der Geschichte des Streichquartetts nachgehen. Also jener klassisch klaren kammermusikalischen Form, die aus zwei Violinen, einer Bratsche und einem Cello besteht.
Aber wer erschuf diese wunderbare Konstellation, in der Mozart, Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Dvorak, Grieg bis Fauré, Debussy, Shostakovich, Messiaen bis Ligeti reüssierten? Viele werden denken, dass das Joseph Haydn ab 1757 mit seinen 68 Quartetten war. Stimmt. Parallel und isoliert von Haydn hat der Italiener Boccherini 1761 sechs Quartett Op. 2 veröffentlicht. Was war ihre gemeinsame Inspirationsquelle, wenn es eine gab? Auch Sammartini und Vivaldi hatten Musik für vier Streicher im Repertoire, Orchesterwerke in Quartettformation spielen lassen oder kurze improvisierte Tänze vor den dritten Sätzen von Sinfonien oder Konzerten kreiert.
Auf dem vorliegenden Album, das eine Antwort auf diese Frage geben soll, hören wir Kompositionen aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts aus England und Haydns Streichquartett op. 71 Nr. 2, entstanden in Wien 1793 zwischen zwei Aufenthalten in London. Purcell und Locke schrieben berühmte Zwischenaktmusiken in reduzierter Besetzung, die während des Szenenumbaus das Publikum daran hindern sollten, während solcher Pausen abgelenkt ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen zuzuwenden. Manche dieser „Curtain Tunes“ waren ganz schön anspruchsvolle Tanzrhythmen, englisch exzentrisch, voller kühner Harmonien und komplex polyphoner Strukturen. Da scheint jede Stimme zu machen was sie will, nicht auf Balance oder Interaktion bedacht. Henry Purcells Fantasias Nr. 2 und 8 bieten anschauliche Beispiele für ein solches „Delirium of senses“.
Über hundert Jahre später hat Joseph Haydn sein hier aufgenommenes Quartett komponiert. Nicht mehr subjektive Formlosigkeit beherrscht die Szene, die Form gehört vielmehr zur „Rhetorik des Genres“ (Olivier Fourés). Dieses spezielle Stück aus der reifen Phase von Haydns Schaffen (Mozart war schon tot) illustriert exemplarisch all die Freiheiten, Asymmetrien, Kontraste, Tanzmotive, das theatralische Element, was im Innersten auf die englische Theaterpraxis zu verweisen scheint.
Das noch ganz junge Kitgut Quartet spannt auf der Suche nach den ersten Experimenten, abseits der klassischen Periode vierstimmige Instrumentalmusik zu schreiben, geschickt den Spagat aus Ungleichzeitigkeit und Querverweisen. Sie wollen auch auf dem Konzertpodium die Probenatmosphäre aus Dialog, Freude und Spontanität aufleben lassen. Das merkt der Hörer in jeder Sekunde. Das im Februar 2019 auf der Ferme de Villefavard im Limousin, Frankreich, aufgenommene Album ist frisch und schwungvoll musiziert. Es respektiert bei aller Transparenz der Stimmen, der edlen und eleganten Klangkultur, dem gemeinsamen common sense stets die Individualität ihrer hervorragenden Mitglieder: Amandine Beyer (1. Violine), Naaman Sluchin (2. Violine), Josèphe Cottet (Villa) und Frédéric Baldassare.
Inhalt der CD
Henry Purcell – Fantasien für Gambe Nr. 2 & 8 für Streichquartett, Curtain Tunes, Fairest Isle & Hornpipe aus „King Arthur“, Pavane in g-Moll, Chaconne in g-Moll
Matthew Locke – The Tempest aus „Curtain Tune“ in C-Dur, Suiten Nr. 1 & 2 aus Consort of four Parts
Joseph Haydn: Streichquartett op. 71 Nr. 2 in D-Dur
John Blow: Act Tune aus „Venus & Adonis“
Dr. Ingobert Waltenberger