Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

CD THOMAS ADÈS dirigiert Werke von THOMAS ADÈS – Boston Symphony Orchestra (BSO), Weltersteinspielungen live 2016/2019; Deutsche Grammophon

24.02.2020 | cd

CD THOMAS ADÈS dirigiert Werke von THOMAS ADÈS – Boston Symphony Orchestra (BSO), Weltersteinspielungen live 2016/2019; Deutsche Grammophon

„O Tod wie soll ich das verstehen? Ich soll tanzen und kann nicht gehen!“ Kleinkind im anonymen Text aus dem 15. Jahrhundert aus der Lübecker Marienkirche

Was für ein Multitalent dieser Thomas Adès doch ist: Komponist in allen Sparten, großartiger Pianist und Dirigent, Leiter des Tanglewood Festival of Contemporary Music, Artistic Partner des BSO. Und ein angenehmer und zugänglicher Zeitgenosse noch dazu, wie ich anlässlich einer Begegnung in der Pariser Wohnung des frz. Komponisten Richard Dubugnon feststellen durfte. Nun legt Adès gemeinsam mit dem Boston Symphony Orchestra und dem russischen Pianisten Kirill Gerstein eine Einspielung des Klavierkonzerts in drei Sätzen aus dem Jahr 2018 vor. Auf dem Album ist zudem der imposante „Totentanz“ für Mezzosopran (Christianne Stotijn), Bariton (Mark Stone) und Orchester in 15 Szenen kennenzulernen.

Nach seinen Opern „The Tempest“, „The Exterminating Angel“ und dem Ballett „Dante dance“ ist in dem großformatigen Klavierkonzert der Pianist zu hören, der Adès zu seinem außerordentlichen Werk inspirierte und vom BSO beauftragt wurde. Es handelt sich um ein traditionelles Virtuosenkonzert, wie man es laut Gerstein „seit Bartók kaum noch zu Gehör bekommen hat.“ Ich erkenne eine wilde Mischung aus Klaviermusik russischer und französischer Traditionen des 20. Jahrhunderts durchsetzt mit jazzigem Broadway-Funkeln, improvisatorisch hinzu tretendem Schlagzeug und exotischen Aufblitzern. Auf jeden Fall ist der Pianist ungemein gefordert, sich gegen ein Riesenorchester durchzusetzen, irrsinnige Läufe zu absolvieren und rhythmisch knallende Akzente zu setzen. 

Kirill Gerstein ist der ideale Mann, die Tastatur mit wuchtiger Pranke zu bearbeiten und dennoch zu leisesten Zwischentönen fähig zu sein. Adès beherrscht nicht nur energiegeladenen Steigerungen, sondern vermag auch abzuphrasieren und zu kleineren Gängen zurück zu schalten. Insgesamt bietet das Klavierkonzert einen wuchtig modernistisch spätromantischen Sound. Beeindruckend.

Der 2013 in der Royal Albert Hall uraufgeführte Totentanz für Mezzo, Bariton und Orchester steht eher in der Tradition von Mahlers „Lied von der Erde“. Im Gedenken an Witold Lutoslawski und seiner Frau Danuta geschrieben, verrät uns Thomas Adès über den zugrundeliegenden anonymen Text folgendes: „Der Text stand unter einem auf Tuch gemalten Fries aus dem 15. Jahrhundert in der Lübecker Marienkirche. Der Fries, der 1942 durch alliierte Bombe im Zweiten Weltkrieg vollkommen zerstört wurde, zeigte vom Papst bis zum Kind in der Wiege sämtliche Kategorien gesellschaftlichen Standes in hierarchisch streng absteigender Folge. Zwischen die Figuren war jeweils ein Bildnis des tanzenden Todes gemalt, der die Menschen aufforderte, ihm zu folgen.“ 

Die Vokalsolisten Mark Stone und Christianne Stotijn stellen die poetisch schrecklichen Worte mittels eindringlich deklamatorischem Gesang und mahnender Intensität wie unter Starkstrom in den Raum. Die vorbildliche Diktion brauchen sie nicht zuletzt, um sich wiederum gegen das lautmalerisch eingesetzte, gigantisch dicht und mächtig aufspielende Orchester behaupten zu können. „Ach weh, was wird mit mir geschehen? Übles ist mir vorgesehen. Nachlässig war ich, unbedacht, und auch mein Handwerk schlecht gemacht. Muss ich dich beten, lieber Herr, all meine Sünden zu vergeben: o führe mich ins ew‘ge Leben!“ endet der Handwerker die fünfzehnte Beschwörung. Der Tod bescheinigt dem Schurken Handwerker, dass es die Seele schwer haben wird.
Der Zyklus geht wie ein in Klang gegossenes Jüngstes Gericht wahrlich unter die Haut. Das BSO unter der Leitung des Komponisten ist Garant eines üppigen Orchesterluxusklangs und von spannungsvollen, hochdramatischen Wiedergaben.

Tipp: Das Klavierkonzert von Adès wird am 27. und 28.2.2020 in München mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Kirill Gerstein unter der musikalischen Leitung von Thomas Adès selbst aufgeführt werden.

Dr. Ingobert Waltenberger 

 

Diese Seite drucken