CD „THE WANDERER“ – SEONG-JIN CHO spielt SCHUBERT, BERG und LISZT; Deutsche Grammophon
Mit dem neuen Konzeptalbum eines musikalischen Wanderers zwischen den Welten gelingt dem jungen koreanischen, in Berlin lebenden Pianisten Seong-Jin Cho eine stimmungs- und temperamentvolle CD. Das Gefühl, in die Natur zu müssen, Stille zu erleben, um wieder ganz bei sich zu sein und den Geräuschpegel des Miteinander oder auch Musik genießen zu können, dürfte schon Franz Schubert beflügelt haben. Weite Wanderungen durch Wälder, über Berg und Tal, entlang von Bächen, Mooren oder Flussläufen oder quer durch Auen und Felder machen den Kopf frei und erden den Menschen. Sie regen aber auch die Imagination und die Aufmerksamkeit an. Kompromisse und Lösungen sollen bei Menschen in Bewegung leichter und rascher gefunden werden als in Konferenzsälen, wo alle gezwungen sind, reglos Stunden zu verharren.
Franz Schubert hat seine Wanderer Fantasie in C-Dur D 760 für einen reichen Dilettanten, den Edlen von Liebenberg, geschrieben. Obwohl Seong-Jin Cho den Wert auf das Wort Fantasie und die damit verbundenen Freiheit im Spiel gelegt haben will, ist nicht zu leugnen, dass dieses pianistische Meisterwerk ihren Namen dem Lied „Der Wanderer“ aus dem Jahr 1816 verdankt. Nebst einem melodischen Zitat versteht sich (“Die Sonne dünkt mich hier so kalt”), dessen schreitender Rhythmus lautmalend den Titel überhöht. Den Pianisten fasziniert, wie sehr Schubert sich hier von den Formmodellen der Wiener Klassik löst, und obwohl die Fantasie vier traditionelle Satzbezeichnungen aufweist, die Musik ohne Pause ineinander überfließt, sich ein einziger gedanklicher Bogen vom Beginn bis zum Ende spannt.
Seong-Jin Cho legt eine hochvirtuose und dennoch in den Rubati wienerisch erfühlte Lesart der Wanderer Fantasie vor. Hitzköpfig wirft er alle Energie in das Allegro con fuoco, die Akkorde haben die wütende Kraft und Glut eines, der alles hinter sich lassen will. Das lyrische Seitenthema atmet Wehmut und melancholische Verinnerlichung. Im cis-Moll Adagio lässt Cho die einer Variationenform folgenden frei durchgeführten glitzernden Passagen und Zwischenspiele in rasanten Läufen perlen. Eine innere Unruhe treibt das Presto, bevor die technische Brillanz des Pianisten das Allegro als wieder dem Leben zugewandte Apotheose in breiten Strichen und knackigen Akkorden zeichnet.
Auf eine ganz andere Weise wienerisch geht es auch mit der ersten Klaviersonate des 24-jährigen Alban Berg weiter. Musikhistorisch ist es so, dass das einsätzige, harmonisch wie formal über die Spätromantik hinausgreifende Werk auf die Zeitgenossen wie eine Verhöhnung der großen Wiener Tradition wirkte, obwohl es sie in aller Emphase fortführte. Aus einem harmonisch gleichsam aufgeladenen Material – Bergs Tribut an seinen Lehrer Arnold Schönberg auf dem Stand von dessen erster Kammersinfonie – entwickelt sich im Rahmen eines einzigen großen Satzes eine komplexe Sonatenform aus Exposition, Durchführung, Reprise und Coda. Seong Jin Cho äußert sich im Interview detailreich persönlicher: „Glenn Goulds Aufnahme hat mich elektrisiert. Durch die Analyse des Notentextes steigerte sich meine Bewunderung noch weiter, denn die Musik ist sehr komplex auf der harmonischen Ebene, alle Details sind großartig ausgearbeitet, es gibt Wagner-Nachklänge, Bezüge zu Beethovens motivischer-thematischer Arbeit, aber auch zum französischen Impressionismus.“ Seong-Jin Cho legt die klaren Strukturen frei, in der kühl schimmernden Architektur blitzen überraschend Leidenschaften auf. Der 25-jährige Pianist erweist sich als ein die Binnenspannung auskostender Analytiker, romantisches Pathos bleibt ausgespart, das Ende klingt lyrisch versponnen aus.
Brillant endet das Album mit der Klaviersonate in h-Moll von Franz Liszt. Ein Himmel und Hölle ausschöpfendes pathetisch-dramatisches Virtuosenschlachtross, eine Musik von Mephisto und Faust, die alle berühmten Pianisten auf den Plan gerufen hat und von der es unzählige Aufnahmen im Katalog gibt. Da gibt es welche, die mir in ihrer Stringenz besser gefallen (z.B.: S. Richter). Dennoch hat auch diese Aufnahme ihre Meriten. Seong-Jin Cho bemüht sich um eine Polarisierung der Stimmungen, er arbeitet Lyrisches und schroffe Bruchlinien extrem heraus. Den Spannungsbogen kann er nicht immer halten. Manche mögen seine Auffassung als manieriert bezeichnen. Am Ende überzeugen mich auch hier drängende Emotion und Bravour.
Dr. Ingobert Waltenberger