CD „THE TCHAIKOVSKY PROJECT“ – SEMYON BYCHKOV und das CZECH PHILHARMONIC, DECCA
Vier Jahre lang, von 2015 bis 2019, hat Semyon Bychkov (Chefdirigent seit 2017) mit den Tschechischen Philharmonikern auf sieben CDs einen klangedlen, in jeder Faser Humanismus ausstrahlenden Tchaikovsky-Zyklus eingespielt. Nicht nur die sechs Symphonien standen auf dem Programm, sondern auch die Fantasie Ouvertüre „Romeo und Julia“, die Fantasie für Orchester nach Dante „Francesca da Rimini“, die „Streicherserenade in C-Dur“, die „Manfred-Symphonie“ nach einer Versdichtung von Lord Byron sowie die drei Klavierkonzerte mit Kirill Gerstein als Solisten.
Tchaikovsky Aufnahmen gibt es wie Sand am Meer. Warum also noch mehr davon? Einer der Gründe des Zustandekommens dieses weit gedachten Zyklus‘ liegt in der kulturgeschichtlichen Vergangenheit des Orchesters, das sowohl in der slawischen als auch der österreichisch-ungarischen Tradition tief verwurzelt ist. Warwick Thompson erklärt dazu: „Die Vorstellung, diese doppelte Identität mit den Einsichten eines Dirigenten von ähnlich kosmopolitischem Hintergrund zu koppeln, der sein Handwerk zunächst in Russland erlernte, dann in Amerika und Europa zur Reife gelangte, war eindeutig zu gut, um sie sich entgehen lassen zu können.“
Musikalisch kann der Zyklus als im besten Sinne klassisch betitelt werden, stehen doch bei den Tschechischen Philharmonikern nicht in erster Linie Transparenz, das Filetieren des Klangs in eine Summe an Einzelstimmen im Fokus der künstlerischen Identität, sondern über weite Strecken ein runder kollektiver Schmelzklang, wie ihn einst Karajan kultivierte und jetzt Bychkov so unnachahmlich pflegt. Insofern ist Bychkov der glatte Antipode zu Dirigenten wie Currentzis, die Dramatik und Tempo auf die laute Spitze treiben und der Spannung halber scharf pointierte Phrasen hektisch durchpeitschen.
Außerdem verfügt das Traditionsorchester über eine prachtvoll dunkel samtene Note, die viele maßgebliche Aufnahmen des tschechischen (inkl. Mahler) und russischen Repertoires von Karel Ančerl über Václav Neumann bis zu Jiří Bělohlávek so unvergleichlich machten.
Bychkov fand ideale Produktionsbedingungen vor. Nach langen Probephasen wurden die Ergebnisse in Konzerten erprobt, bevor er in ausgedehnten Studiositzungen seine Ideale verfestigen konnte. Live wurden lediglich die Klavierkonzerte mit Kirill Gerstein mitgeschnitten. Besonders interessant ist hier, dass das erste Klavierkonzert in der ursprünglichen Fassung von 1879 auf Basis des 2015 veröffentlichten Urtexts eingespielt wurde. Dazu Gerstein: „Die Fassung von 1879 ist diejenige, die Tchaikovsky selbst bis Ende Oktober 1893, nur wenige Tage vor seinem Tod, dirigiert hat. Und sie zeigt eine weitaus lyrischere, Schumann’sche Konzeption des Konzerts. Zum Beispiel sind die Anfangsakkorde arpeggiert und weniger bombastisch; der schnelle Abschnitt des zweiten Satzes ist nur mit Allegro vivace überschrieben, nicht mit Prestissimo, wie man es in der späteren Fassung findet, die oft eher wie Zeichentrickfilm-Musik klingt und nicht wie ein lebhafter Walzer. Es gibt viele weitere Änderungen, die insgesamt einen viel lyrischeren und edleren Ausdruck erzeugen, der in der bekannteren, posthumen Version eher negiert wird.“ Anmerkung: Kirill Gerstein hat mit seiner ersten Aufnahme der Urtext-Version des Ersten Klavierkonzertes von Tchaikowsky unter der Leitung von James Gaffigan und dem Deutschen Syxmphonieorchester Berlin 2015 in der Kategorie „Konzerteinspielung des Jahres 19.Jhdt)“ den Klassik-Echo gewonnen
Tatsächlich ist Kirill Gerstein das dritte Atout dieses Zyklus. Der Pianist, der jüngst mit dem Boston Symphony Orchestra eine fantastische Einspielung des jeden Rahmen sprengenden Klavierkonzerts von Ferruccio Busoni vorlegte, führt bei den drei Klavierkonzerten aus der Feder Tchaikovskys trotz aller technischen Bravour keine pianistischen Schlachtrösser vor, sondern behält den romantischen lyrischen Grundduktus bei. Besonders wichtig ist dem Pianisten als auch dem Dirigenten die „Rehabilitierung“ des künstlerisch eigentlich noch kühneren zweiten Konzerts, mit 47 Minuten Spielzeit auch des längsten.
Ebenso leidenschaftlich wirft sich Bychkov nicht nur musikalisch, sondern auch wortreich für die Manfred-Symphony ins Zeug. Man muss sie nur im Sinne des dramatischen Gedichts von Lord Byron interpretieren mit echten Menschen und echten Gefühlen, dann erledige sich der Vorwurf, „wiederholend, episodisch oder gar kitschig“ zu sein, von selbst. Und wirklich begeistert die viersätzige Symphonie nach Motiven des faustisch-schweizerischen Alpenschauerdrama rund um den in Todessehnsucht nach Erkenntnis ringenden Manfred ohne Einschränkung: Die inzestuöse Beziehung zur Halbschwester Astarte (im wirklichen Leben Lord Byrons zu Augusta) samt der Flucht des Helden in die Alpen bot dem Komponisten genügend Raum für Eigen-Identifikation, darüber hinaus darf er mit der Musik in opulenten Naturbildern schwelgen.
Fazit: Ein Tchaikovsky-Zyklus für Klanggenießer und Kenner, die das unbeschreiblich sinnliche und tiefschürfende böhmische Musikantentum auch in russischem Repertoire zu schätzen wissen.
Dr. Ingobert Waltenberger