CD THE LAST CASTRATO – Arien für VELLUTI – FRANCO FAGIOLI mit dem Choeur & Orchestre de l’Opéra Royal; Château de Versailles Spectacles
Tolle Raritäten, aber vokal etwas unter den Erwartungen
Giovanni Battista Velluti: Ob er tatsächlich im Alter von acht Jahren bei einer Behandlung wegen Verkühlung versehentlich seiner Testikel beraubt wurde, ist eine der Geschichten rund um den „letzten der großen Kastraten“, die heute sicher nicht mehr zu verifizieren sind. Genau wissen wir, dass Komponisten wie Rossini, Meyerbeer, Mercadante, Mayr, Pacini oder der aktuell noch zu entdeckende Nicolini diesem viel begabten Sänger, Komponisten, Impresario und Gesangslehrer (u.a. der Primadonnen Giuditta Pasta und Maria Malibran) Rollen für ihre neuen Opern auf den Leib bzw.in die wendige Gurgel schrieben. 1780 in der Nähe von Macerata geboren, legte der Musiker ab 1798 eine bedeutende Karriere hin. Beginnend von Rom und Neapel folgten alsbald Venedig, Mailand, Wien und München.
Gioachino Rossini hat Velluti für den Arsace in „Aureliano in Palmira“ an der Mailänder Scala 1813/14 vorgesehen, nach dessen Misserfolg aber nicht mehr mit ihm in einer Oper zusammengearbeitet. Stendhal, der von der überwältigenden Schönheit des jungen Sängers entzückt war, meinte, dass Rossini über die übermäßigen eigenmächtigen Variationen in den Arien empört gewesen sein soll. Eine Behauptung, die sich musikwissenschaftlich nicht erhärten lässt, weil Rossini sich sogar für eine seiner berühmtesten Arien überhaupt, nämlich ‚Una voce poco fa‘ aus „Il barbiere die Sevilla“ von Vellutis Verzierungskunst inspirieren haben lassen soll.
Dass Velluti ein Uraufführungssänger sondergleichen war, ist auf die damaligen Gepflogenheiten zurückzuführen. Dass er aber mit seinen Ornamentierungen das belkantistische Operngeschehen nachhaltig prägte oder als Allrounder etwa in London in Meyerbeers „Il Crociato in Egotto“ 1825 nicht nur als Sänger der Hauptrolle auftrat, sondern zusätzlich das Bühnenbild und die Kostüme schuf, zudem die musikalische Leitung übernahm, ist außergewöhnlich. In der zweiten Hälfte der 20-er Jahre des 18. Jahrhunderts ging es stimmlich nach und nach bergab. 1833 war Schluss mit dem Gesang. Von da an gab er sein immenses Wissen gratis an Lernwillige weiter. 1861 starb er in einem Dorf in der Nähe von Padua.
Das vorliegende Album, das die Erinnerung an Giambattista Velluti wachrufen soll und auf eine Initiative von Franco Fagioli zurückgeht, basiert auf umfangreichen musikwissenschaftlichen Arbeiten des Gianmarco Rossi aus den Jahren 2021 bis 2023. Acht Nummern wurden aus den großen Reservoirs an Opern, in denen Velluti reüssierte, ausgewählt. Was nicht so einfach gewesen sein dürfte, wenn man sich vor Augen führt, dass Velluti alleine in über 40 Opernproduktionen von Giuseppe Nicolini und 13 von Francesco Morlacchi mitgewirkt hat.
Von den beiden Tonsetzern stammt logischerweise auch die Hälfte der Titel, die auf dem vorliegenden Album zu hören sind: Szenen und Arien aus den Opern „Balduino“, „Traiano in Dacia“ und „Carlo Magno“ von Nicolini sowie aus „Tebaldo e Isolina“ von Morlacchi stehen neben Arien von Paolo Bonfichi (aus der Oper „Attila“), Saverio Mercadante (aus der Oper „Andronico“) und Gioacchino Rossini (aus der Kantate „Il vero omaggio“). Einige der Stücke hatte der berühmte Primo uomo immer bei sich, um sie nach Belieben in anderen Opern einzusetzen. Darunter fallen die Gran scena aus Mercadantes „Andronico“ ‚Di grida insolite‘ oder die Cavatine ‚Dolenti e care immagini‘ aus Bonfichis „Attila“. Weitere Kriterien der Auswahl bildeten Arien, die die künstlerische Kontinuität seiner Karriere ausweisen.
Franco Fagioli besitzt unter allen Countertenören mit dem von ihm bewältigten immensen Tonumfang über drei Oktaven ein Alleinstellungsmerkmal. Er ist daher im Grunde hervorragend dazu geeignet, dieses romantische Repertoire glaubhaft vorzustellen. Zu einer sinnstiftenden Interpretation dieser Sangesjuwelen sind nicht nur eine geläufige, bewegliche Stimme, die Gabe zu kleinteiligen Ornamentierungen oder halsbrecherischen Koloraturen nötig, sondern auch lang gesponnene Bögen in der Mittellage mit Emotionen und Farben ausstaffieren zu können und eine große dynamische Bandbreite zu bewältigen.
Was rasante Passagen oder eine gut in Legatobögen eingebundene, freie Höhe angeht, ist Fagioli nach wie vor top. Allerdings stört mich das ausladende Vibrato im leiseren Legato und ein künstliches Nach-Unten-Drücken in der tiefen Lage. Außerdem bleibt die Theatralik im Vortrag Geschmackssache.
Natürlich wird das mit dem Chor und Orchester der Opéra Royal von Versailles unter der sensitiven Zeichengebung des Stefan Plewniak insgesamt gediegen musizierte Album dem Anspruch gerecht, einen vergessenen, aber bedeutsamen Gesangsvirtuosen des 19. Jahrhunderts wieder vor den Vorhang zu bitten und nachdrücklich auf Komponisten wie Bonfichi, Nicolini und Morlacchi zu verweisen.
In diesem Sinne wünsche ich dem Album den verdienten Erfolg.
Dr. Ingobert Waltenberger