Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

CD THE KURT WEILL ALBUM – JOANA MALLWITZ dirigiert das Konzerthausorchester Berlin; Deutsche Grammophon

26.07.2024 | cd

CD THE KURT WEILL ALBUM – JOANA MALLWITZ dirigiert das Konzerthausorchester Berlin; Deutsche Grammophon

Debütalbum der Dirigentin als diskografischer Wolkenkratzer

Veröffentlichung: 2. August 2024

weill

Vom satirischen Ballett mit Gesang in sieben Bildern mit Prolog und Epilog „Die sieben Todsünden“ und den beiden Symphonien des Kurt Weill gibt es etliche empfehlenswerte Aufnahmen, mehrheitlich älteren Datums (ausgenommen etwa die vorzügliche mit dem Swedish Chamber Orchestra, geleitet von HK Gruber, bei BIS erschienen), aber kein Album wartete bisher mit den „Todsünden“ und den beiden Symphonien gemeinsam auf.

Das musikalische Schaffen des in Dessau geborenen Pianisten, Dirigenten und Komponisten Kurt Weill ist in ihrer stilistischen Breite und unkonventionellen Anlage selbst für die an innovativem künstlerischem Schaffen so reichen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts solitär. Abseits von „Die Dreigroschenoper“ sowie das Singspiel „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ ist das Werk des Humperdinck und Busoni Schülers Weill noch immer in ihrer Vielgestaltigkeit wenig bekannt. Er schrieb u.a. musikdramatische Stücke, Operetten, Musicals, Ballett- und Filmmusiken, Kantaten, Streichquartette, Symphonien, Suiten, Lieder, Songs und Chansons. Weill nur auf seine künstlerische Partnerschaft mit Bertolt Brecht zu reduzieren, wäre eine extreme Verkürzung.

Die erst 1958, also acht Jahre nach Weills Tod, uraufgeführte Sinfonie Nr. 1, die sogenannte „Berliner“, geht auf eine in Aussicht genommene Bühnenmusik zu Johannes R. Bechers Festspiel „Arbeiter, Bauern, Soldaten: Der Aufbruch eines Volkes zu Gott“ zurück. Vom pazifistisch-marxistischen Stück mit pseudoreligiösem Charakter einer Rückkehr der Menschheit in ein „Land der Verheißung“ inspiriert, ist in der absoluten Musik der Symphonie außer formalen Bezeichnungen nach der Art von „Wie ein Choral“, kaum etwas übrig. Weill schrieb das einsätzige Werk während seines Berliner Studiums in der Meisterklasse Ferruccio Busonis.

Spätromantische Einflüsse (Mahler, Schoenberg oder R. Strauss) mischen sich mit avantgardistisch expressionistischen Zügen in einer eigenrezeptuellen musikalischen Gärung zu hochprozentig Fermentiertem. Die anfängliche, aus lauter Quarten gebaute Fanfare setzt den Marker zu einer bekenntnishaften Musik, die jenseits der hymnisch freien Tonalität mit zarten, sich nie anbiedernden Lyrismen punktet. Ich empfinde darin einen ungewöhnlichen Liebesgruß an das Leben selbst aus einer Zeit der politischen Instabilität, als Ausdruck der überschäumenden Begeisterung eines jungen Menschen nicht zuletzt über seine schier endlose Kreativität. Mallwitz: „Ich höre einen jungen Komponisten, der alles will. Alles lernen, alles entwickeln, alles ausdrücken, alles sagen. Man hört alle möglichen Stile und Einflüsse, man findet in der Symphonie Kontrapunkt, Songs, Tanzmusik, große Symphonik, Opernhaftes.“ In ihrer umwerfenden Emotionalität berührt sie jedenfalls subkutan, diese „Berlinerische“ ist in ihrer rotkäppchensektploppenden „Unfertigkeit“ mein persönliches Lieblingsstück des Albums.

Die Uraufführung des Balletts chanté „Les Sept Péchés Capitaux – Spectacle sur des Poèmes de Bert Brecht“ erfolgte am 7. Juni 1933 im Théâtre des Champs-Elysées mit Lotte Lenya als Anna I. Hier verweist das frech chansonhafte auf die Musik der Berliner Cabarets der goldenen Zwanziger.

Ob Gisela May, Marianne Faithfull, Ute Lemper, Brigitte Fassbänder oder Anja Silja, lang ist die Liste der singenden Schauspielerinnen bzw. ausdrucksstarken Sängerinnen, die sich dieser gesellschafts- wie kapitalismuskritischen Satire um Faulheit, Stolz, Hochmut, Völlerei, Wollust, Geiz und Neid in der spezifischen Deutung nach Brecht voller Passion verschrieben haben.

Auf diesem Album ist es Katharine Mehrling, deutsche Bühnenikone und Multitalent, die als Schauspielerin auf der Bühne und im Film, als Musicalstar oder Chansonnière oder Jazzsängerin gleichermaßen reüssierend, eine tolle Anna hinlegt. Die grauslich gierige Familie wird vom phänomenal homogenen Männerquartett Michael Porter, Simon Bode, Michael Nagl und Oliver Zwarg voller zynischer Schärfe verkörpert. Mit heller Stimme gelingt Mehrling der Spagat zwischen kindlicher Naivität, sich nach Gerechtigkeit sehnender Seele und abgründig raffinierter Frau mit zwei Persönlichkeiten. Anna II tritt nur in der szenischen Version als Tänzerin in Erscheinung. Sieben Jahre sollen sie Geld für die Familie raffen, damit sich die Sippschaft in Louisiana am Mississippi ein kleines Haus leisten kann. Zu diesem Zwecke durchackern sie durch Städte wie Memphis, Los Angeles, Philadelphia, Boston bis San Francisco auf der Suche nach Einnahmequellen. Nach sieben Jahren steht das Haus. Die Spießer werden sich darin wahrscheinlich langweilen. In dieser letzten Zusammenarbeit zwischen Kurt Weill und Bertolt Brecht hat Weill mit diesem Mix aus lasziv kecken Gesangsnummern der Anna und der dazu kontrastierenden stupenden Virtuosität im Orchester und den Männerensembles künstlerisch den Tonus vorgegeben.

Als Abschluss des Albums hören wir Weills Sinfonie Nr. 2, im Auftrag von Winnaretta Singer, der Princesse Edmond de Polignac, entstanden. 1933 in Berlin begonnen und in Paris vollendet, wurde sie von Weill als sinfonisches Nocturno umschrieben. Kein Geringerer als Bruno Walter war es, der diese dreisätzige, nach dem Willen des Dirigenten als „Fantaisie Symphonique“ bezeichnete Tonschöpfung im Oktober 1934 mit dem Amsterdamer Concertgebouw-Orchester öffentlich aus der Taufe hob. Eigentümlich unbeschwert und leichtfüßig begrüßt uns diese Musik, die sich alsbald und immer wieder zu wilden Fratzen hinreißen lässt und sich schwindelerregenden Abgründen nähert. Im Zentrum des Werks steht ein von einem Trauermarsch wie Tango durchsetztes Largo, das in ein Tarantella ähnliches Allegro vivace mündet.

Joana Mallwitz und ihrem Konzerthausorchester Berlin kommen das Verdienst zu, die Symphonien mit Spielwitz und beschwingter, nie schneidender rhythmischer Präzision aus ihrer vermeintlichen Sperrigkeit geholt zu haben. (Anm.: Die „Zweite“ wurde in Berlin erst 1975 zum ersten Mal aufgeführt). Das Orchester ist in allen Gruppen, vor allem in Holz, Blech und Perkussion exquisit, die polystilistischen Bezüge arbeitet Mallwitz genau heraus, wobei es am Ende um Atmosphäre und bewegende, mitreißende Gefühle, vielleicht um spintisierende Traumwelten, geht. Mallwitz: „Für mich ist die Zweite Symphonie wie ein Fenster, durch das man mitten hineinkatapultiert wird ins Berlin der 1920er Jahre. Diese Musik beschreibt nicht nur, sondern sie ist das Lebensgefühl einer Zeit voller Ambivalenzen      zwischen Trauma und Vorahnung.“

Alle werden sich etwas anders vorstellen bei den eruptiv schillernden Klängen, die -hier dürfen wir uns auf einen gemeinsamen Nenner einigen – Teile der heutigen Wirklichkeit in unheimlicher Art und Weise widerspiegeln.

Fazit: Joana Mallwitz hat als ihr Gelblabel-Debüt ein konzeptuell wohldurchdachtes Album vorgelegt („Gerade in der Zweiten Symphonie und den Sieben Todsünden finden sich viele Motive, die ganz ähnlich klingen.“), mit dem sie die kompositorisch-biografischen Anknüpfungspunkte Weills an Berlin thematisiert und klanglich ins Heute transferiert. Aber vergessen wir nicht: Die schmerzliche Flucht 1933 nach Paris und 1935 weiter nach New York bewirkten, dass Weill sich explizit nicht mehr als deutschen Komponisten sah und zu den Gefühlen bei der Ankunft im New Yorker Hafen befragt, bekannte: „Ich bin ein Amerikaner“.

Ein interpretatorisch grandioses, klangtechnisch vorzügliches, noch dazu mit über 82 Minuten Spielzeit großzügig bemessenes Album: 100 von 100 Punkten!

Dr. Ingobert Waltenberger

 

Diese Seite drucken