CD SZINERGIA – Franz Liszt Chamber Orchestra, Sárközy Trio und Pablo Barragán (Klarinette) spielen Musik von Hartmann, Kodály, Weiner, Bartók und de Lucia; Accentus
Ungarn und ein Andalusier spielen Magyarisches mit einem Münchner Komponisten im Mittelpunkt. Wie das? István Várdai, Cellist und musikalischer Leiter des Franz Liszt Chamber Orchestra erklärt, dass das Ensemble mit dem Spanier Pablo Barragán als Solisten Karl Amadeus Hartmanns „Kammerkonzert für Klarinette, Streichquartett und Streichorchester“ gemeinsam aufgeführt haben. Ausgehend davon wäre bald der Wunsch entstanden, rund um dieses Konzert ein Album mit ungarischer bzw. ungarisch beeinflusster Musik zu entwickeln, an der jeweils die Klarinette beteiligt ist. Das passe zur ungarischen Musik, denn da gab und gibt es ja das Tárogató, ein vor allem in Ungarn und Rumänien verbreitetes Holzblasinstrument mit einfachem Rohrblatt, das zwar irgendwie wie eine Klarinette aussieht, aber vom konisch gebohrten Schallrohr her an ein hölzernes Saxophon erinnere.
Was hat Hartmanns Konzert außer dem Widmungsträger (Hartmann O-Ton: “Das Konzert ist im Geist und in Verehrung für Zoltan Kodaly geschrieben“) mit ungarischer Musik zu tun? Barragán: „Der erste Satz ist eindeutig eine Hommage an Kodálys „Tänze aus Galatha“. Auch die Tanzvariationen sind äußerst ungarisch, voller Flexibilität und Temperament, in der Fantasia jedoch zeigt Hartmann vermutlich mehr von sich selbst, in dem er eine endlose Melodie auf so schöne Weise aufbaut, sie dann harmonisiert, dekonstruiert und rekonstruiert, bis alles wieder zusammenkommt.“
Da die Klarinette dabei sein sollte und, besonders was das Sárközy Trio mit der seltenen Kombination aus Violine, Cimbalon (=ein mit Klöppeln geschlagenes Hackbrett) und Kontrabass anlangt, ist es klar, dass es sich beim Programm mit dem „Kálló Doppeltanz“ von Zoltán Kodály und dem Divertimento Nr. 1 „Alte ungarische Tänze“ von Leó Weiner um Bearbeitungen handelt (Gyula Julius Csik, bzw. Lajos Sárközy & István Várdai). Bei Paco de Lucias „Callejón del Muro“ darf Pablo Barragán solo sein eigenes Arrangement zelebrieren. Die Rumänischen Volkstänze Sz. 56, BB 68 von Béla Bartók erklingen in einer Bearbeitung für Klarinette, Cimbalon und Streicher, die Jonas Dominique dem Klarinettisten Martin Fröst auf den Leib geschrieben hatte. Die Cimbalonstimme wurde von Olof Wendel ergänzt. Bleiben noch zwei kurze Stücke, das Epigramm Nr. 3 und das Epigramm Nr. 6, Andantino, von Zoltán Kodály für Klarinette, Cello und Kammerorchester und fertig ist ein Album, das in Sorgfalt erstellt, durch mitreißend detailverliebtes Musizieren und inspirierte Spontanität glänzt. Trotz hoher Komplexität einiger Kompositionen (Hartmann), fallen sofort die Natürlichkeit des musikalisch vertrauensvollen Miteinanders sowie der Wille zu Transparenz und klanglicher Balance auf.
Ungarische Bauernmusik, archaische Volkslieder, Verbunkos, dörfliche Csárdástänze, diese so typisch, vielfach als exotisch, gleichermaßen als glühend temperamentvoll empfundenen Momenti der ungarischen Musik sind es, die im 19. Jahrhundert dazu geführt haben, dass etwa Franz Liszt traditionelle Aspekte ungarischer Musik mit jenen der „neudeutschen Schule“ verband. Im frühen 20. Jahrhundert begründete vor allem Bela Bartók mit der Integration melodischer, rhythmischer und harmonischer Elemente der von manchen Operettenkomponisten verkitschten ungarischen „Folklore“ in die musikalische Avantgarde, nunmehr als klassische Moderne bezeichnet, eine innovative Strömung nationalistischer Art, die bald universellen Charakter annahm.
Klanglich geprägt ist das vorliegende Album durch das unglaublich differenzierte, den Geheimnissen und Brüchen der 30-er Jahre des 20. Jahrhunderts nachspürende Klarinettenspiel von Pablo Barragán im Hartmann-Kammerkonzert. Die Sensitivität und atmosphärisch unheimliche Dichte der Streicher können uns mit überwiegend feinst gesponnenen Klanggeweben in Introduktion, Einleitung und Thema der Tanzvariationen sowie den sechs Variationen samt abschließender Fantasie in die damalige Verfassung des Komponisten versetzen. Denn nach anfänglicher Zustimmung zu Beginn der 30er Jahre verbannten die Nazis sein Werk aus den Konzertsälen, das von da an für die Schreibtischlade entstand. Da macht auch das Kammerkonzert keine Ausnahme, das 1930 und 1935 entstand und erst am 17. Juni 1969 in Zürich mit dem Tonhalle-Orchester unter Rudolf Kempe uraufgeführt wurde.
Gerahmt ist das Kammerkonzert von dem (einfacheren) Leben huldigender, bisweilen melancholisch untersetzter Musik, von der vor allem das fünfsätzige Weiner-Divertimento und die berühmten sieben rumänischen Volkstänze von Bartók für scharf papriziertes ungarisches Lokalkolorit sorgen.
Das konzeptuell während zweier Jahre entwickelte Album besticht insgesamt durch eine ausgetüftelte Klangregie, die dynamischen Abschattierungen werden ungemein gefühlvoll dargestellt. Auf Reißerisches und Vordergründiges wird verzichtet. Das Franz Liszt Kammerorchester mit dem formidablen István Várdai an der Spitze, das glitzernde Sárközy Trio (Lajos Sárközy Violine, Gyula „Julius Csik“ Cimbalon, Rudolf Sárközy Kontrabass) und Pablo Barragán lassen uns an einer genussvollen Séance wie rar lehrreichen Lektion über Verbindendes der deutschen und ungarischen Musikgeschichte teilhaben. Da schließt sich auch der Kreis zum auf den ersten Blick nicht selbstredend zu entziffernden Titel des Albums „Synergie“, der in der dialogisierenden Rezeption auch das Publikum miteinschließt.
Dr. Ingobert Waltenberger