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CD „SOPRANISTA“ SAMUEL MARINO – ANDREA MARCON dirigiert das La Cetra Barockorchester Basel; DECCA

05.08.2022 | cd

CD „SOPRANISTA“ SAMUEL MARINO – ANDREA MARCON dirigiert das La Cetra Barockorchester Basel; DECCA

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Klassische Sopranarien von Männern gesungen sind eine Rarität. Es gab und gibt nur ganz wenige Vertreter dieses Sopranista-Fachs, die einen internationalen Durchbruch schaffen und noch weniger, die Gelegenheit haben, bei einem Major Label wie DECCA ein Solo-Album aufnehmen bzw. vertreiben zu dürfen. Daher kann ich mir vorstellen, dass die Begegnung mit diesem so raren Stimmwunder selbst für Fans von Countertenören noch immer für ganz andere, neue Hörerfahrungen gut ist. Seien Sie beriet, schnallen Sie sich an!

Natürlich wissen wir über die Praxis der Kastratensoprane im 18. Jahrhundert Bescheid, zumal Opernstars wie Cecilia Bartoli oder Max-Emanuel Cencic viele Glanzrollen von Divos wie Senesino, Farinelli, Carestini oder Siface auf der Bühne gesungen oder für Tonträger eingespielt haben. Zum Ursprung der Faszination ein Zitat:

Besonderer Gunst erfreuten sich die Kastraten bei Adel und Klerus. Das hochgradig Artifizielle ihres Singens – dies gilt sowohl für ihren androgyn ambivalenten Stimmklang als auch für ihren extrem virtuosen Vortragsstil entsprach dem Lebensgefühl der damaligen Oberklasse; ebenso wie die von jeder urwüchsigen Natürlichkeit befreiten, kunstvoll zurechtgestutzten Gärten und die vor Stuck und Dekor überbordenden Kirchenräume des Barock. (Aus Kurt Malisch Virtuosität und Brillanz des Händelgesangs, Von den Kastraten zu den Countertenören, S. 152)

Jetzt aber einmal kein Koloraturalt oder Countertenor: Neben dem 21-jährigen, aus Honduras stammenden Dennis Orellana ist es der Venezolaner Samuel Mariño, der mit seinem qualitätsvollen Sopran vor allem im immer breiter wirkenden Barockopernrepertoire für Aufsehen sorgte. Als Balletttänzer an der Venezolanischen Nationalen Tanzschule ausgebildet, erfolgte die musikalische Schulung am Klavier und in Gesang am Nationalen Musikkonservatorium in Caracas. Später ergänzte Mariño die Studien am Conservatoire de Paris.

Mariño ist ein echter Sopran, das heißt, er kann ohne Einsatz von Falsett in einer sehr hohen Lage singen. Die Tessitura reicht bei Marino vom eingestrichenen bis dreigestrichenen C. Auf dem vorliegenden Album hat sich Mariño Arien des 18. Jahrhunderts vorgenommen. Von Mozart über Gluck bis zu Bologne und Cimarosa reicht die Bandbreite der Komponisten. CD-Weltpremieren sind auch darunter, und zwar die Arie des Oreste “Cara parte del mio core“ aus der Oper „Oreste“ von Domenico Cimarosa (für die Königin von Neapel komponiert) und die Arie der schönen Witwe Léontine “Enfin une foule importune…Amour devient moi propice“ aus der Oper „L’Amant anonyme“ des Joseph Bologne, Chevalier de Saint-George.

Im Zentrum des Albums stehen fünf Arien aus den Mozart-Opern „Le nozze di Figaro“ (Cherubino „Voi che sapete“), „Il re pastore“ (König Aminta „Aer di tranquillo e di sereni“, „L’amerò, sarò costante“), „La Clemenza di Tito“ (Sesto „Deh per questo istante solo“ und „Mitridate, re di Ponto“ (Sifare „Lungi da te, mio bene“). Zu den großen Mozart-Kastratenrollen hat Barbara Bonney den jungen Venezolaner ermuntert, aber auch Hosenrollen, wie der Cherubino oder der Sesto, liegen ihm hörbar exzellent in der Kehle.

Von Gluck hat Mariño „Che farò senza Euridice“ in der Fassung aus der Oper „Le feste d’Apollo“ gewählt. Besonders der Kastratensopran Giuseppe Millico hat es Mariño angetan, der die Arie anlässlich einer Aristokratenhochzeit in Parma gesungen hatte und für seine Ausdrucksstärke gerühmt wurde. „Mit ihm kann ich mich stark identifizieren. Leidenschaft ist mein Ding“, bekennt der südamerikanische Paradiesvogel, der auf den Fotos im Booklet mit Vorliebe in high heels posiert.

Als ausgesprochene Raritäten erweisen sich die zwei reizvollen, stilistisch die Ära des Belcantos aufbereitende Arien aus Domenico Cimarosas Opern „“Gli Orazi e i Curiazi“ und „Oreste“. Von seinen 80 Opern sind fast alle von den Spielplänen und Bühnen verschwunden. Vom am Hofe der Zarin Katharina II. in Sankt Petersburg und in Wien von Kaiser Leopold II. als Nachfolger Antonio Salieris als Hofkomponist engagierten Cimarosa sind nur die komische Oper „Il matrimonio segreto“ (Die heimliche Ehe) und vielleicht noch die Buffa „Le astuzie feminili und die Opera seria „Gli Orazi ed i Curiazi“ bekannt. Wie zukunftsweisend letztere war, kann auf diesem Album vergnüglich nachvollzogen werden.

Samuel Mariño besitzt eine in Tiefe, Mittellage und vor allem in den beseelten Piani seidig timbrierte Stimme, die unmittelbar berührt. Fiorituren, Koloraturen (Aminta!) und rasche Läufe vermag der musikalische Sänger akkurat und präzise zu formulieren. Mariño wirkt spontan im Ausdruck, hat Temperament und erweist sich trotz der maximalen Künstlichkeit des Gesangs des 18. Jahrhunderts als natürlicher und in der Ausreizung der Emotionen hochehrlicher Künstler. Ein romantischer Mensch durch und durch, der seinem Publikum Uner- und Ungehörtes schenkt.

Vielleicht erfahren wir durch Mariño ja ein wenig mehr davon, wie das im 18. Jahrhundert hätte sein können. Die unvergleichliche Faszination der Ästhetik seines Singens mit herzerweichendem und trotzdem hoch individuellem Timbre schickt uns auf eine 250-jährige Zeitreise nach Italien und Frankreich, die wir zum ersten Mal oder dank seiner Konzerte und Tonträger zum zweiten Mal antreten können. Imaginiert tief in den Logen verborgen, alle Sinne konzentriert, den Stimmwundern der damaligen Zeit auf der Spur und doch am Ende wieder ganz im Heute des 21. Jahrhunderts angekommen. Natürlich klingt und funktioniert dieses Stimmfach ganz anders als Frauenstimmen. Die Expansionsfähigkeit der Stimme in der Höhe ist vergleichsweise limitiert. Das Fach, das Mariño abdeckt, ist mit lyrischer Koloratur gut beschrieben. Dieses Vertraute und sensationelle Ausgrabungen mischende Programm ist nur so gespickt mit technischen Schwierigkeiten und verlangt einen beträchtlichen Tonumfang, aber auch endlose Legatobögen und eine hervorragende Atemtechnik. Es wartet mit Überraschungen auf, als die berühmte Arie „Che farò senza Euridice“ in einer kaum bekannten Version aus Glucks Oper „Le feste d’Apollo“ gewählt wurde.

Andrea Marcon und das La Cetra Barockorchester Basel agieren historisch informiert und bieten dem Sänger einen hochprofessionellen und beweglichen Instrumentalrahmen. Mit der Ouvertüre zu „L’Amant anonyme“ von Joseph Bologne kann La Cetra das stupende Niveau des außerordentlichen Schweizer Barockorchesters einmal mehr für sich sprechen lassen.

Fazit: Nehmen wir dieses Album, als das, was es ist. Und das ist viel: Eine bunte exotische Blüte in der Diskothek des 18. Jahrhunderts, die unser Verständnis über die Oper des 18. Jahrhunderts zu erweitern vermag und die Begegnung mit einer luxuriösen männlichen Sopranstimme bereithält, die unsere Hörgewohnheiten herausfordert. Beim mehrmaligen Abspielen hat mich dieses Album immer mehr für sich einnehmen können. Sich darauf einzulassen, lohnt sich auf jeden Fall.

https://www.youtube.com/watch?v=7TocGcbSLF8

https://www.samuelmarino.com/

Hinweis: Beim Label Orfeo ist 2020 Marinos erstes Solo-Album „Care Pupille“ mit Arien von Händel und Gluck (Händelfestspielorchester Halle unter der künstlerischen Leitung von Michael Hofstetter) erschienen.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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