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CD SOFIA GUBAIDULINA – Dialog: Ich und Du, The Wrath of God, The Light of the End, VADIM REPIM, GEWANDHAUSORCHESTER LEIPZIG unter ANDRIS NELSONS; Deutsche Grammophon  

03.01.2022 | cd

CD SOFIA GUBAIDULINA – Dialog: Ich und Du, The Wrath of God, The Light of the End, VADIM REPIM, GEWANDHAUSORCHESTER LEIPZIG unter ANDRIS NELSONS; Deutsche Grammophon

 

Musikalisches Porträt mit Weltersteinspielungen zum 90. Geburtstag der Grande Dame der Neuen Musik

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Sofia Gubaidulina lebt in der Nähe von Hamburg. Die in der Tatarischen Republik geborene Musikerin erhielt ihre Ausbildung am Konservatorium von Kasan in den Fächern Klavier bei Grigori Kogan und Komposition. Gubaidulina tat sich 1972 mit den Komponisten Vyacheslav Artyomov und Viktor Suslin zur Gruppe „Astraea“ zusammen, in der man auf russischen, kaukasischen sowie mittel- und ostasiatischen Volks- und Ritualinstrumenten improvisierte. Nach und nach wurden ihre Werke, nicht zuletzt gefördert von Gidon Kremer, auch außerhalb der Sowjetunion bekannt. 

 

Asiatische Einflüsse, christlich religiöse Themen, ihr höchstpersönlicher “Dialog mit dem Göttlichen”, aber auch Merkmale der europäischen und amerikanischen Avantgarde prägen ihre Musik. Mittels Zahlenspielen ermittelt sie Tonhöhen, Rhythmen und Formverläufe. Die Verknüpfung von mathematischer Logik und einer spirituellen Emotionalität weist sie als ferne Nachfahrin von Johann Sebastian Bach aus.

 

“Als Ideal betrachte ich ein solches Verhältnis zur Tradition und zu neuen Kompositionsmitteln, bei dem der Künstler alle Mittel – sowohl neue als auch traditionelle – beherrscht, aber so, als schenke er weder den einen noch den anderen Beachtung. Es gibt Komponisten, die ihre Werke sehr bewusst bauen, ich zähle mich dagegen zu denen, die ihre Werke eher ‘züchten’. Und darum bildet die gesamte von mir aufgenommene Welt gleichsam die Wurzeln eines Baumes und das daraus gewachsene Werk seine Zweige und Blätter. Man kann sie zwar als neu bezeichnen, aber es sind eben dennoch Blätter, und unter diesem Gesichtspunkt sind sie immer traditionell, alt. Den größten Einfluss auf meine Arbeit hatten Dmitri Shostakovich und Anton Webern. Obwohl dieser Einfluss in meiner Musik scheinbar keine Spuren hinterlassen hat, ist es doch so, dass mich diese beiden Komponisten das Wichtigste gelehrt haben: ich selbst zu sein.”

 

Wie außergewöhnlich und vielseitig diese Künstlerin ist, davon zeugen schon die unterschiedlichen Texte, denen sie in ihrer kompositorischen Arbeit verbunden ist. Sie reichen von altägyptischer bis zu persischer Poesie, aber auch die Lyrik des 20. Jahrhunderts, u.a. von Marina Zwetajewa, hat Gubaidulina inspiriert.

 

Auf dem vorliegenden Jubiläumsalbum der Deutsche Grammophon dirigiert Andris Nelsons das Gewandhausorchester Leipzig. Im “Dialog: Ich und Du”, basierend auf dem gleichnamigen Buch von Martin Buber aus dem Jahr 1923, übersetzt Gubaidulina die “zwiefältige” Welt in eine komplexen Auseinandersetzung zwischen Violine und Orchester.  Für Vadim Repin geschrieben, wurde das Stück 2018 in Novosibirsk uraufgeführt. Auf der CD hören wir den Mitschnitt der deutschen Erstaufführung vom Dezember 2019 aus dem Leipziger Gewandhaus. 

 

“Der Zorn Gottes”, der siebte Satz des Oratoriums “Über Liebe und Hass”, erklingt hier in einer Umarbeitung zu einem eigenständigen Orchesterwerk. Es geht um die Schuld des Menschen angesichts eines zornigen Gottes im Sinne eines mächtigen “Dies irae“ Tongemäldes. Dem großen Beethoven gewidmet, fand die Uraufführung des kathartisch mit einer “apokalyptischen Jubelfanfare” endenden Werks Corona-bedingt 2020 ohne Publikum im Wiener Musikverein statt. Andris Nelsons beauftragte die Klanggärtnerin Gubaidulina, aus “Der Zorn Gottes” eine zweiteilige Beethoven-Hommage zu schaffen. 

 

Das dritte Stück des Albums, “The Light of the End” ist auch das älteste. Der Musik liegt eine akademische Fragestellung zugrunde: die Unvereinbarkeit der Naturtonreihe mit der temperierten Stimmung als klanglich-künstlerisches Modell für die Unvereinbarkeit von Natur und realem Leben. Im Stück stehen einander Hörner und Orchester sowie Solo-Horn bzw. Solo-Cello als Proponenten dieser Idee gegenüber. “Der Werktitel selbst bezieht sich auf den Schlussabschnitt, der mit funkelnden Zimbalklängen einen Hoffnungsschimmer spendet.” (Zitat Tobias Niederschlag). Aber was wir hören, ist das Unakademischste was sich denken lässt. Gubaidulina scheint im Symphonischen ein neues Kapitel aufzuschlagen, die hypertrophen Klangwelten der Spätromantik mit einer Zeitmaschine ins 21. Jahrhundert zu transponieren. Kosmisch, visionär.

 

Mir persönlich gehen die endzeitlichen Sturzfluten in “Der Zorn Gottes” besonders nahe. Mit gewaltigen orchestralen Mitteln wird hier zum jüngsten Gericht geblasen. Gubaidulina setzt an Dramatik noch eins auf Wagners Parsifal, Ende 2. Akt, und dem Trauermarsch in der Götterdämmerung drauf, mit alle den ins All flitzenden Sekundreibungen, den mächtigen Trompetenfanfaren und herrischen Trommelwirbeln. Gleichzeitig hat dieser wie von galoppierenden Schwarzen Reitern angetriebene Suspens etwas Filmisch Anschauliches in der Nachfolge der großen Filmmusiken von Shostakovich und Prokofiev. Eine zu Klang gewordene Abrechnung des Göttlichen mit dem Irdischen mit einem Funken Versöhnlichkeit am Horizont.   

 

Was das Gewandhausorchester da und in “The Light of the End“ leistet, ist atemberaubend. Basstuben, Posaunen, das ganze hochgerüstete Arsenal an Schlagzeug beschwören Klangwuchten, die wie magnetische Stürme aus der Sonne geschleudert wirken, rotglühend und sich ungestüm aufbäumend, blutende Blüten in den Himmel zeichnend. Perkussions-Glissandi und Geige singen am Ende ihr Lied eines fern aufklarenden Schimmers und wirbeln Sternenstaub auf müde Gesichter. 

 

Andris Nelsons ist sein brennendes Engagement für das Werk Gubaidulinas in jeder Sekunde des Albums anzuhören. Das Schlusswort soll ihm gewidmet sein: “Die Musiker des Gewandhausorchesters und ich haben die beiden Orchesterwerke während des Corona-Lockdowns eingespielt, und Sofia Gubaidulinas Musik hat uns hierbei viel Zuversicht gegeben. Dieses musikalische Porträt zu ihrem 90. Geburtstag wird die emotionale Kraft ihrer Musik hoffentlich auch einem größeren Publikum vermitteln.”

 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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