Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

CD SHOSTAKOVICH: 4. SYMPHONIE – LONDON SYMPHONY ORCHESTRA, GIANANDREA NOSEDA, live Aufnahme aus dem Barbican London November 2018; LSO

27.12.2019 | cd

CD SHOSTAKOVICH: 4. SYMPHONIE – LONDON SYMPHONY ORCHESTRA, GIANANDREA NOSEDA, live Aufnahme aus dem Barbican London November 2018; LSO

 

Die Vierte von Shostakovich, ein von Gustav Mahlers Schaffen eng inspiriertes Sandwichkind bzw. Übergangswerk, steht zwischen der die Revolution verherrlichenden  zweiten bzw. dritten sowie der berühmten, als reif geltenden fünften Symphonie. Es dauerte 25 Jahre, bis diese 1936 geschriebene Symphonie endlich am 30. Dezember 1961 in Moskau ihre Uraufführung unter der Stabführung von Kirill Kondrashin erleben durfte. Geschrieben genau zu der Zeit, wo das Sowjetregime Shostakovich Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ nach allen Regeln der damaligen politischen Kunst in Fetzen zerriss, dürfen wir heute eine wild zerklüftete dreisätzige, enorm einfallsreiche, exzentrische und mit allen Tugenden ironischer Brechungen gesegnete Symphonie erleben. Für mich ist es das originellste Meisterwerk schlechthin unter den Instrumentalwerken von Shostakovich, ein „extrem abruptes und graphisches Nebeneinander von Edelmut und beängstigendem, groteskem Bildersturm.“

 

Dem Italiener Gianandra Noseda, u.a. erster Gastdirigent des LSO und ab 2021/22 Generalmusikdirektor des Opernhauses Zürich, gelingt eine drastisch die kalt lodernde Dramatik bis zum Exzess auskostende Interpretation. Vor allem die ausgedehnten Ecksätze mit ihren Marschrhythmen, hämmernden Bläserakkorden, dem Trauermarsch, der Atemlosigkeit des Allegros samt frech herausfordernden Zerrklängen und dem ersterbend verklingenden Finale sind expressiver und kommunikativ-direkter kaum auf Tonträger konserviert. Hie und da lugt das „Wunderhorn“ Schema Mahlers in Form von einbauten Liedern, Tänzen und Märschen beim Fenster herein. 

 

Das London Symphony Orchestra, ein technisch äußerst brillanter Klangkörper, vermag in Riesenbesetzung (u.a. 20 Holzbläser, 17 Blechbläser) die Strukturen und unvergleichliche Instrumentierungsgabe des Komponisten mit Bravour zu präsentieren. Gemeinsam mit dem immens musikantischen Chef Noseda wird diese Vierte zu einem Fanal klanglich seelischer Gewalten. Ob, wie Shostakovich das 1970 behauptete, das Werk ohne die „Orientierungshilfe der Partei“ schärfer, mit mehr Bravour und Sarkasmus ausgefallen wäre, möchte ich anzweifeln. Das Faszinierende an all der großartigen Musik aus der Sowjetzeit ist doch genau das gleichsam Kaschierende, und dennoch in all dem Ausweichen massiv Grenzüberschreitende. Welch quicklebendige Wiedergabe!

 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

Diese Seite drucken