Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

CD-Set SERGEY IVANOVICH TANEYEV „Orchesterwerke“ – THOMAS SANDERLING dirigiert

Novosibirsk Akademisches Symphonieorchester und Russisches Philharmonisches Orchester; NAXOS

13.08.2022 | cd

CD-Set SERGEY IVANOVICH TANEYEV „Orchesterwerke“ – THOMAS SANDERLING dirigiert das Novosibirsk Akademische Symphonieorchester und das Russische Philharmonische Orchester; NAXOS

tane

Fast hätte ihn der amateurhaft die Geige, das Klavier und die Gitarre malträtierende aristokratische Vater mit seinen abenteuerlichen täglichen Hausmusikabenden für immer als ernsthafter Musiker verdorben. Sergeys erste Klavierlehrerin bewahrte ihn vor diesem Schicksal, das seine beiden älteren Brüder traf, weil sie ihm strikt verbot, mit dem Vater zu musizieren, ja sogar ihm beim „Klavierspiel“ zuzuhören.

Sergeys musikalische Väter wurden vielmehr Nikolai Rubinstein und vor allem Peter I. Tchaikovsky, mit dem ihm über die Studien hinaus eine enge lebenslange Freundschaft verband. Obwohl sich Taneyev in Kompositionstechnik und Musikstil anders als der weltumarmende Tchaikovskys entwickelte, standen die Werke des jungen Musikers in den 1870er Jahren verständlicherweise im Hinblick auf die Art der Entwicklung der Themen, der Instrumentierung und Harmonie unter dem Einfluss des älteren Meisters. So trägt die erste Symphonie in e-Moll des 18-jährigen Tonsetzers aus dem Jahr 1874 Züge der Zweiten ‚kleinrussischen‘ Symphonie von P.I. Tchaikovsky. Das Werk – seiner Schwägerin Elena gewidmet – trat erst 1948 aus dem Nachtschatten des Symphonikers Tchaikovsky. In diesem Jahr wurde der symphonische Erstling Taneyevs endlich uraufgeführt und gedruckt.

Auch die zweite Symphonie in B-Dur nahm Taneyev noch während seiner Studentenzeit am Moskauer Konservatorium in Angriff. Nikolai Rubinstein dirigierte das Allegro in Moskau und mochte es nicht. Da halfen auch die Fürsprache und die Ermunterung von Tchaikovsky nicht, der meinte, die Skizzen erlaubten das Urteil, es nicht mehr mit einem studentischen Stück zu tun zu haben und Sergey möge doch die Symphonie doch zu Ende bringen. Erst 1977 editierte und vervollständigte der sowjetische Musiker Vladimir Blok die Symphonie. Da von Scherzo nichts erhalten blieb, weist die Symphonie nur drei Sätze aus.

Taneyev war 30 Jahre alt und schon selbst Professor am Moskauer Konservatorium, als er die dritte Symphonie in d-Moll schrieb. Und wieder war es Tchaikovsky, der – wenngleich gutmeinend – den arrivierten Taneyev mit Rat- und Vorschlägen überhäufte. Die Dritte wurde ein vor allem kontrapunktisch kunstvoll verästeltes Stück, das auch mit einem federleichten Andantino grazioso und einem jubelnden ‚Allegro con brio‘ als Finale begeistert. Das dem Kollegen Anton Arensky gewidmete Werk wurde 1885 unter der Stabführung des Komponisten uraufgeführt. Es war die einzige Aufführung zu Lebzeiten Taneyevs, die Partitur wurde erst 1947 in Moskau veröffentlicht.

Selbstbewusster wurde Taneyev erst mit der Alexander Glazunov gewidmeten vierten Symphonie in c-Moll, die als erste vom Komponisten mit einer Opuszahl (Op. 12) versehen wurde. Ob der Beiname „Russischer Brahms“, den ihm diese Vierte bescherte, den Tatsachen gerecht wird, möge dahingestellt bleiben. Taneyev selbst lehnte diesen Vergleich vehement ab, obwohl von der Vorliebe für kontrapunktische Durchführungen, melodischer Invention und raffiniert harmonischen Wendungen her durchaus Parallelen bestehen. Taneyev war bei dieser Symphonie auch zeitlich für seine Verhältnisse flott unterwegs. Er brauchte bis zur Fertigstellung nur zwei Jahre, während er an seiner Oper „Oresteia“ mehr als zwölf Jahre arbeitete und sich an seinem theoretischen Hauptaufsatz „Mobiler Kontrapunkt des strengen Schreibens“ 20 Jahre abmühte.

Auf jeden Fall gehört Taneyev der hochromantischen Schule an. Er orientierte sich an westlichen Harmonien, die Einflüsse von Bach und Beethoven sind unüberhörbar. Alte Musik, die Kunst der Fuge, und polyphone Techniken liebte er, Taneyev studierte und bewunderte die Musik von Renaissancekomponisten wie Jean d’Ockeghem, Josquin des Prez, Orlando di Lasso und Palestrina.

All diese Einflüsse wollte er mit Einsprengseln von russischer Volksmusik zu einer eigenständigen musikalischen Sprache amalgamieren. Zu seinen Lebzeiten wurde er jedoch vorwiegend als virtuoser Pianist, vor allem von Klavierwerken des P. I. Tchaikovsky bekannt. Taneyev besorgte auch die russische Uraufführung von Brahms‘ erstem Klavierkonzert. Nach Tchaikovskys Tod vollendete, orchestrierte und edierte er die Werke seines verehrten Vorbilds. Taneyev selbst war auch ein bedeutender Pädagoge, in Praxis und Theorie. Zu seinen Schülern zählten Sergej Rachmaninow, Alexander Skrjabin, Nikolai Medtner und Reinhold Glière.

Jetzt ist es an der Zeit, sich mit dem außerordentlich eleganten, formvollendeten und originellen Werk Taneyevs zu befassen. Die vorliegende 4 CD-Box gibt dazu die beste Gelegenheit. Zum Preis von etwas mehr als einer normalen CD können die künstlerisch und aufnahmetechnisch hervorragenden, von 2006 bis 2008 im Studio des Westsibirischen Radios entstandenen Einspielungen des Dirigenten Thomas Sanderling nachgehört und genossen werden. Er dirigiert all die verschiedenen Werke der Box voller Emphase, pflegt einen üppigen, brillanten Orchestersound und überträgt seine Leidenschaft für das kompositorische Schaffen Taneyevs spürbar auf alle Mitwirkenden.

Der deutsche, in Novosibirsk geborene Dirigent studierte ab 1960 an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin. Nach Assistenzen bei Herbert von Karajan und Leonard Bernstein war Sanderling ständiger Gastdirigent an der Staatsoper Berlin. Musikgeschichtlich bedeutsam ist seine Freundschaft mit dem Komponisten Shostakovich und dessen Familie. Im Mai 2013 dirigierte Sanderling die Uraufführung der letzten Oper des russischen Komponisten Mieczysław Weinberg „Der Idiot“ am Nationaltheater Mannheim. 2017 wurde Sanderling Chefdirigent beim Symphonieorchester von Novosibirsk, eine Funktion, die er am 7. März 2022 wegen des russischen Einmarsches in der Ukraine zurücklegte.

Neben den bereits erwähnten vier Symphonien – eine weitere Ähnlichkeit zum Schaffen von Brahms – stehen u.a. die Konzertsuite Op. 28 (Solovioline Ilya Kaler), die Kantate „Iohannes von Damaskus“ Op. 1 nach einem Gedicht von Alexei Tolstoi, mit dem homogen und opulent singenden Gnesin Akademischen Chor und die 20-minütige Ouvertüre zu „Oresteia“, das Zwischenspiel vom dritten Akt „Der Tempel des Apoll in Delphi“, eine „Ouvertüre über ein russisches Thema“ und eine frühe Ouvertüre in d-Moll (1875) auf dem Programm. Charmant und melodienselig zwitschert die Canzona für Klarinette und Streicher. Stanislav Jankovsky ist der wunderbar sanglich aufspielende Solist.

Falls Sie in die Musik Taneyevs hineingehören wollen, dann sei Ihnen dieser Teaser von Naxos auf Youtube ans Herz gelegt. Link: https://www.youtube.com/watch?v=Wh0pPLRE4L0

Uneingeschränkte Empfehlung!

Dr. Ingobert Waltenberger

 

Diese Seite drucken