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CD: Sergej Prokofiev Klavierkonzert Nr. 2 g-moll Op. 16 / Alexey Shor Klavierkonzert Nr. 1 (Welt Ersteinspielung). Behzod  Abduraimov, Klavier, Royal Philharmonic Orchestra, Vasily Petrenko, musikalische Leitung. Alpha-Classics, ALPHA1124

29.03.2025 | cd

Zwei Welten, ein Pianist: Behzod Abduraimov zwischen Prokofiev und Shor

shou

Es gibt Einspielungen, die nicht nur interpretatorisch, sondern auch konzeptionell überraschen. Diese Aufnahme mit dem Royal Philharmonic Orchestra unter Vasily Petrenko stellt genau eine solche Gegenüberstellung dar: Sergej Prokofievs zweites Klavierkonzert, ein Werk von düsterer Wucht und explosiver Virtuosität, trifft auf das erst 2023 komponierte erste Klavierkonzert von Alexey Shor, einem Komponisten, dessen Musik für ihre lyrische Direktheit und melodische Zugänglichkeit bekannt ist. Behzod Abduraimov, ein Pianist von herausragender Präzision und Ausdruckstiefe, nimmt sich beider Werke an – und schafft einen faszinierenden Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Sergej Prokofievs zweites Klavierkonzert ist ein Gigant seines Repertoires. Als es 1913 in Pawlowsk bei St. Petersburg uraufgeführt wurde, sorgte es für einen Skandal: Zu modern, zu radikal, zu wenig greifbar erschien den Zeitgenossen die Musik. Die Erstfassung ging in den Wirren der russischen Revolution verloren, sodass Prokofiev das Werk 1923 rekonstruierte – mit noch größerer Schärfe, noch mehr harmonischer Kühnheit und pianistischem Feuerwerk. Das Ergebnis ist eine Tour de Force: ein Konzert, das einerseits melancholische Tiefe und dämonische Virtuosität vereint, andererseits die Grenzen pianistischer Technik auslotet wie kaum ein anderes.

Die Einspielung beginnt mit Prokofievs zweitem Klavierkonzert – und sofort zieht Bezhod Abduraimov den Hörer in einen Sog. Das eröffnende Andantino klingt wie ein innerer Monolog: Die linke Hand legt dunkle Akkorde aus, während die rechte sich vorsichtig in melodische Höhen vortastet. Doch das In-sich-Gekehrte währt nicht lange. Bald türmen sich Klangwellen auf, das Orchester erwacht mit grellen Farben, und Abduraimov entfesselt ein gewaltiges Crescendo, das die Musik in eine Katastrophe reißt. Besonders in der monströsen Kadenz zeigt sich seine Brillanz: Jede Phrase ist scharf konturiert, jedes Motiv entwickelt eine unwiderstehliche Eigenlogik, und dennoch bleibt die große Linie stets spürbar.

Das Scherzo ist ein atemloser Wirbel aus repetitiven Figuren, so messerscharf gespielt, dass sie geradezu mechanisch wirken – als würden Zahnräder ineinander greifen, ein Getriebe, das keinen Stillstand kennt. Doch Abduraimov wahrt eine organische Geschmeidigkeit, die den Satz vor bloßer Motorik bewahrt. Der Intermezzo-Satz bringt eine schwerfällige, fast groteske Tanzbewegung ins Spiel: Hier zeigt das Royal Philharmonic Orchestra unter Petrenko seine ganze Stärke. Die Streicher spielen mit schneidender Präzision, während die Bläser teils schroff, teils ironisch aus der Textur hervortreten.

Dann das Finale: ein rauschender Strudel, in dem sich Abduraimov und das Orchester gegenseitig antreiben. Die Wucht der Schläge, das Feuer der Läufe – all das kulminiert in einem Schluss, der nicht einfach triumphal ist, sondern wie ein letzter verzweifelter Aufschrei in den Abgrund klingt.

Ganz anders Alexey Shors erstes Klavierkonzert. Der 1970 in Israel geborene Komponist gilt als Meister der kantablen Melodie und klaren Formensprache. Seine Musik verweigert sich bewusst avantgardistischen Strömungen und knüpft stattdessen an spätromantische, impressionistische Traditionen an. Sein Klavierkonzert Nr. 1, erst im Jahr 2023 komponiert, zeigt diese Handschrift eindrucksvoll: Es ist ein Werk voller schimmernder Harmonien, fließender Linien und einer ausgeprägten Erzählkraft, die filmmusikalische Qualitäten hat. Während Prokofiev mit Brüchen und Widersprüchen arbeitet, entwirft Shor eine Klangwelt von eher nostalgischer Schönheit – eine Welt, die dem Zuhörer nicht mit Dissonanzen und Widerstand begegnet, sondern sich mit natürlicher Eleganz entfaltet.

Nach der brachialen Kraft von Prokofiev wirkt Alexey Shors Klavierkonzert wie eine sanfte Berührung. Eine herrliche Musik, die die Seele tief berührt, so dass man als Zuhörer nur staunend den bezaubernden Melodieverläufen folgt. Die Streicher setzen mit einem silbrig schimmernden Klang ein, und das Klavier tritt nicht als Sturmbrecher auf, sondern als Erzähler. Abduraimov lässt jede Linie fließen, sein Anschlag ist weich, aber von leuchtender Klarheit. Hier zeigt sich seine Vielseitigkeit: Wo er bei Prokofjew mit attackierender Vehemenz agierte, gestaltet er Shor mit einem natürlichen, fast improvisatorischen Atem.

Der zweite Satz ist ein Höhepunkt der Aufnahme: eine schlichte, aber tief empfundene Melodie entfaltet sich über schwebenden Harmonien, das Klavier singt beinahe. Man hört Anklänge an Chopin, vielleicht sogar an Rachmaninow, aber ohne Pathos – es ist eine Musik, die sich selbst genug ist, die nicht in Extremen schwelgt, sondern auf der Nuance beruht. Die Orchestrierung bleibt durchgehend transparent, Petrenko führt das Royal Philharmonic Orchestra mit sanfter Hand, sodass die Farben leuchten, ohne zu überstrahlen.

Der letzte Satz bringt eine Spur Dramatik, doch bleibt Shors Tonsprache stets von Klarheit geprägt. Das Spiel zwischen Klavier und Orchester wird lebendiger, rhythmische Akzente setzen Lichtpunkte, und Abduraimov greift mit wendiger Eleganz in die Tasten. Der Schluss wirkt nicht wie eine Apotheose, sondern wie ein offener Ausklang – als wolle die Musik weiterleben, jenseits des letzten Tons.

Diese Aufnahme ist nicht einfach nur eine Demonstration pianistischer Brillanz. Sie ist eine dramaturgisch durchdachte Gegenüberstellung zweier Werke, die entgegengesetzte Pole musikalischer Ausdruckskraft markieren. Abduraimov zeigt dabei nicht nur technische Meisterschaft, sondern eine enorme interpretatorische Bandbreite. Seine Fähigkeit, in Prokofjews düsterem Kosmos ebenso zu leuchten wie in Shors schwebender Melancholie, macht ihn zum idealen Vermittler dieses musikalischen Dialogs.

Die Klangqualität der Aufnahme ist herausragend: Das Klavier fügt sich organisch ins orchestrale Gefüge, jeder Streicherklang hat Präsenz, jeder Bläsereinsatz zeichnet sich mit plastischer Klarheit ab. Die Balance ist vorbildlich, die Dynamik detailreich ausgelotet.

Wer Prokofievs Zweites in seiner ganzen wilden Kraft erleben will, wird hier ebenso fündig wie jener, der sich von Shors melodischer Schönheit einfangen lassen möchte. Es ist gerade das Werk von Alexey Shor, was diese Einspielung so wichtig und herausragend macht. Es ist eine Aufnahme, die nicht nur fasziniert, sondern nachwirkt – ein musikalischer Spannungsbogen, der von den Abgründen der Moderne bis zur Klarheit der Romantik reicht.

Dirk Schauß im März 2025

Sergej Prokofiev

Klavierkonzert Nr. 2 g-moll Op. 16

Alexey Shor

Klavierkonzert Nr. 1 (Welt Ersteinspielung)

Behzod  Abduraimov, Klavier

Royal Philharmonic Orchestra

Vasily Petrenko, musikalische Leitung

Alpha-Classics, ALPHA1124

 

 

 

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