CD „SECRET LOVE LETTERS“ – LISA BATIASHVILI mit Musik von César Franck, Karol Szymanowski und Ernest Chausson; Deutsche Grammophon
Die große Romantikerin unter den Geigenvirtuosinnen, ihre heimlichen Lieben und geheimen Botschaften
Beseelt: Hätte ich ein einziges Wort zur Verfügung, um die Qualität des neuen Albums der berühmten georgischen Geigerin zu umschreiben, es wäre eben das.
Lisa Batiashvilis „Secret Love Letters“ konfrontiert uns mit spätromantischen Repertoire-Bekannten: Karol Szymanowskis erstes Violinkonzert Op. 35, Ernest Chaussons „Poème“ Op. 25, César Francks Sonate in A-Dur für Violine und Klavier FWV 8 sowie Claude Debussys „Beau soir“ für Violine und Klavier in einer Bearbeitung von Jascha Heifetz.
Schon wieder? könnte jemand sagen, der sich in Violinliteratur gut auskennt; angesichts der sehr oft gespielten und aufgenommenen Stücke von Franck und Chausson. Aber erstens ist da der junge 2000 in Tbilisi geborene Pianist Giorgi Gigashvili (https://giorgigigashvili.com/de/), der als Partner von Lisa Batiashvili in der vom belgisch-französischen César Franck dem Geiger Eugène Ysaye als Hochzeitsgeschenk zugeeigneten Sonate für Violine und Klavier in A-Dur mehr als aufhorchen lässt. Er vermag den seidenen Faden zwischen rauschhafter Entäußerung und knappst reduziertem Klavierpart einmalig zu spannen. Das von Wagner hergeleitete harmonische Taumeln, das Fluidum des Vagen und Flüchtigen, das scheint’s Periphere als Allentscheidende in chemisch heiklen menschlichen Beziehungen, all das überwältigt den Hörer in dieser so sensitiv wie klangschön und erzählerisch inspirierten Interpretation. Alles stimmt, harmonisches Miteinander weicht kontrastreichen Aufschwüngen im sich eng umschlingenden Themenreigen im Allegretto poco mosso.
Das von Marcel Proust (in der Person des Romanfigur Vinteul) geheimnisumwoben ins Hochliterarische gehobene Stück changiert zwischen uferloser Sehnsucht, großer Geste und intimster Introspektion. Ob man sich dieser Musik wie Vinteuil in der „Suche nach der verlorenen Zeit“ als Erinnerungsträger des Swann an seine Liebe Odette oder anderen weniger konkreten, dafür umso persönlicheren Gefühlen aus dem Gestern ins Heute nähert, ist gleich.
Lisa Batiashvili nennt das Album „Geheime Liebesbriefe“. Die Geigerin offenbart, wie sie sich im Kindergarten in einen vierjährigen Jungen verliebt hatte. Und damals schon das Intimste, Fragilste im Leben schützend nur der Geige anvertraut hatte. „Unser Alltag wird oft von Dingen bestimmt, die wir für uns behalten und in unseren Herzen und Köpfen verbergen. Für Künstler ist Musik genau wie bildende Kunst oder Literatur seit jeher eine wunderbare Möglichkeit, geheime Botschaften zu übermitteln und von heimlichen Lieben und nicht erzählten Geschichten zu sprechen.
Szymanowksis Konzert (Anm.: Nr. 1 Op. 35 mit der Kadenz von Pawel Kochanski) etwa „erzählt von der Liebe und dem Schmerz eines Mannes, der seine Gefühle für einen anderen Mann verleugnen musste, weil diese Liebe zu seiner Zeit sowohl vom Gesetz wie von der Gesellschaft verurteilt wurde. Die Musik tanzt zwischen Erotik und Mitleid, zwischen einer Traumwelt und der bitteren Realität.“
Auch Chaussons „Poème“ ist für Batiashvili eine leidenschaftliche Liebeserklärung, und jedes seiner Themen feiert dieses Gefühl in allen Facetten von Verlust bis Schönheit.
Begleitet wird Lisa Batiashvili bei Szymanowski und Chausson vom luxuriös romantischen Sound des Philhadelphia Orchestra unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin, der mit seinem Bekenntnis „Musik beginnt dort, wo Worte enden. Das Besondere an der Musik ist, dass sie uns erlaubt, Dinge zu sagen, die wir manchmal nicht einmal uns selbst eingestehen.“ sicherlich vielen aus der Seele spricht. Manchmal ist Musik ja auch einfach eine gute Gelegenheit, sich mit sich selbst über Gefühle, Sehnsüchte, Träume und Utopien zu beraten, die eine kalte Realität erst erträglich machen. Dazu ist dieses Album der optimale Mittler, aber auch ein Manifest umwerfend brillanten und differenzierten Geigenspiels, das in der schillernd impressionistischen Farbenpracht seinesgleichen sucht.
Tipp: Giorgi Gigashvili spielt am 12. Oktober 2022 in der Philharmonie, Berlin in der Reihe „Debüt im Deutschlandfunk Kultur“ mit dem Deutschen Symphonieorchester Berlin unter der Leitung von Finnegan Downie-Dear das Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 C-Dur op. 26 von Sergej Prokofiev. Ansonsten stehen noch „Thema und Variationen op. 42“ von Erich Wolfgang Korngold, das Konzert für Horn und Orchester von John Williams (Pascal Deuber Horn) sowie „Das Märchen von der steinernen Blume“, Ballett op. 118: Suite zusammengestellt von Finnegan Downie Dear (Sergej Prokofiev) auf dem Programm.
Dr. Ingobert Waltenberger