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CD: RUTH GIPPS – Eine Visionärin der britischen Musik- Chandos präsentiert die dritte Folge mit Orchesterwerken von Ruth Gipps

02.01.2025 | cd

Ruth Gipps: Eine Visionärin der britischen Musik

Chandos präsentiert die dritte Folge mit Orchesterwerken von Ruth Gipps

gipp

Mit der dritten CD seiner Reihe über Ruth Gipps holt Chandos eine der faszinierendsten, aber auch am meisten unterschätzten Stimmen der britischen Musik des 20. Jahrhunderts ins Rampenlicht. Unter der Leitung von Rumon Gamba und begleitet vom BBC Philharmonic sowie dem Hornvirtuosen Martin Owen entfalten fünf Werke ihr beeindruckendes musikalisches Panorama – von royaler Pracht über pastorale Miniaturen bis hin zu einem ergreifenden Zeugnis der Kriegsjahre.

Schon als Kind war Ruth Gipps eine Ausnahmeerscheinung: Mit vier Jahren stand sie erstmals als Pianistin auf der Bühne, als Achtjährige wurde ihr erstes Werk veröffentlicht. Doch der frühe Ruhm war nur der Anfang einer Karriere, die mit bemerkenswerter Konsequenz und nicht selten auch kämpferischem Geist verfolgt wurde. Mit nur 15 Jahren begann sie ihr Studium am Royal College of Music in London und hatte das Glück, von den besten Lehrern ihrer Zeit zu lernen: Komposition bei Ralph Vaughan Williams und Gordon Jacob, Oboe bei Léon Goossens, Klavier bei Tobias Matthay. Hier wurden die Grundlagen für ihren unverwechselbaren Stil gelegt, der sich der britischen Spätromantik verpflichtet fühlte.

Ihr kompositorisches Talent zeigte sich früh: Bereits 1942 gelang ihr der Durchbruch mit „Knight in Armour“, das unter Sir Henry Wood bei der Last Night of the Proms aufgeführt wurde. Doch trotz solcher Erfolge blieben Gipps viele Türen verschlossen – die Vorurteile gegen Frauen in der Musik waren in der Mitte des 20. Jahrhunderts überwältigend. Eine Stelle als Leiterin eines großen Orchesters? Undenkbar. Doch Gipps ließ sich nicht entmutigen. Stattdessen nahm sie das Heft selbst in die Hand und gründete 1955 das London Repertoire Orchestra und später das Chanticleer Orchestra, mit denen sie nicht nur ihre eigenen Werke, sondern auch zeitgenössische Musik präsentierte. Musikalisch blieb Gipps eine Traditionalistin in einer Zeit, in der die Avantgarde das Geschehen dominierte. Sie lehnte Atonalität und Serialismus entschieden ab und setzte stattdessen auf ausdrucksstarke Melodien und dichte, oft farbenprächtige Orchestrierungen. Ihr Stil mag von Komponisten wie Vaughan Williams, Elgar und Bax inspiriert sein, doch in ihren besten Momenten klingt eine Stimme durch, die nur ihre eigene sein kann – leidenschaftlich, lyrisch und zutiefst menschlich.

Das Album eröffnet mit einem Werk, das Pomp und Grandeur verströmt: die „Coronation Procession“. Obwohl es nicht bei der Krönung von Queen Elizabeth II. 1953 verwendet wurde, ist es ein musikalisches Fest für das Ohr. Gipps malt hier mit großem Pinsel: Fanfarenartige Bläser, ein majestätisches Thema und ein ständiges Voranschreiten, das den Einzug in Westminster Abbey suggeriert. Rumon Gamba und das BBC Philharmonic bringen die schillernde Pracht mit geradezu filmischer Intensität zum Klingen.

Die Tanzmusik „Ambarvalia“, eine Gedenk-Hommage an den Komponisten Adrian Cruft, gehört zu den späteren Werken von Gipps und entstammt dem Jahr 1988. Der Titel verweist auf ein antikes römisches Frühlingsfest, doch die Musik ist introspektiver, als der Name vermuten lässt. Sanfte, wogende Streicherflächen und fließende Melodien schaffen eine Atmosphäre, die leicht melancholisch, aber niemals schwer wirkt. Ein musikalisches Kleinod, Balsam für Ohren und Seele! Rumon Gamba führt das Orchester mit einer geradezu meditativen Ruhe, die das Stück in seiner stillen Schönheit erstrahlen lässt.

Das Herzstück der CD ist das Horn Concerto, ein Werk voller Tiefe und Eleganz, das Gipps für ihren Sohn Lance Baker schrieb. Hier zeigt sich die ganze Stärke des Solisten Martin Owen: Sein Spiel ist nicht nur virtuos, sondern auch poetisch. Besonders im ersten Satz bezaubert er mit einer erstaunlichen klanglichen Vielfalt und intensiver Sonorität. Schwebende Streicherklänge umgarnen die Klänge des Solisten, während die Holzbläser kontrastierende Akzente einwerfen. Das folgende Scherzo kommt heiter und leichtfüßig daher. Im Finale beweist Owen seine technische Brillanz – es ist, als würde er mit dem Orchester tanzen. Nun kennt die Musik keine Zurückhaltung mehr, ein Wettlauf der Virtuosität beginnt und endet mit viel Dynamik. Rumon Gamba sorgt dafür, dass das Ensemble dabei stets ein kongenialer Partner bleibt, mal zurückhaltend begleitend, mal kraftvoll antwortend.

Eine zarte Miniatur inspiriert von den Landschaften des Lake District „Cringlemire Garden“ ist ein Kleinod der britischen Romantik, in dem das Streichorchester wie ein lebendiges Gemälde klingt. Die Musiker des BBC Philharmonic spielen mit einem Höchstmaß an Transparenz und Sensibilität, wodurch die pastoralen Bilder von unberührter Natur und stiller Erhabenheit lebendig werden.

Die erste Sinfonie von Ruth Gipps ist eine beeindruckende Leistung für eine junge Komponistin, geschrieben während des Schreckens des zweiten Weltkriegs. Von der düsteren Dramatik des ersten Satzes über den lyrischen Trost im folgenden Adagio, das berückend von der Oboe eingeleitet wird, bevor die Streicher einen intensiven Gesang anstimmen. Im Allegro werden alle Instrumentengruppen rhythmisch stark gefordert, was für das BBC Philharmonic eine willkommene Gelegenheit ist, seine spielerische Klasse zu zeigen. Die Musik ist kraftvoll und vorwärts eilend. Ein klagendes Adagio lässt das Finale beginnen, noch einmal drängt der Krieg in die Musik, hier nun traurig, ermattend. Dann lässt Gipps ihre Sinfonie enden, wie ein tönender Phönix aus der Asche. Die Musik pulsiert und richtet sich auf, Klänge der Trompete und Flöte gemahnen an das Licht am Ende des Tunnels. Auch hier faszinieren wieder die intensiven Dialoge zwischen Holzbläsern und Streichern, wie sie für Gipps charakteristisch sind. Kein Getöse, sondern ein leiser Schluss, mit dennoch deutlichen Zeichen der Hoffnung. Eine starke Aussage! Rumon Gamba und das BBC Philharmonic bringen die dramatischen Kontraste mit großer Intensität zur Geltung, wobei die Holz- und Blechbläser besonders hervorstechen.

Diese CD ist mehr als eine bloße Sammlung von Orchesterwerken – sie ist eine Einladung, Ruth Gipps neu zu entdecken. Rumon Gamba beweist einmal mehr, dass er ein spannender Interpret der britischen Musiktradition ist, und Martin Owen setzt mit seinem Hornspiel Maßstäbe. Die Aufnahme unterstreicht die Bedeutung von Gipps’ Schaffen und zeigt, dass ihre Musik auch heute noch nichts von ihrer Strahlkraft eingebüßt hat. Ein Album, das inspiriert und berührt – und den Wunsch weckt, mehr von dieser außergewöhnlichen Komponistin zu hören.

Dirk Schauß, im Januar 2025

 

Ruth Gipps
Orchestral Works, Vol. 3
Martin Owen, Horn
BBC Philharmonic
Rumon Gamba, musikalische Leitung

Chandos, Chan 20284

 

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