Leonard Bernstein und die emotionale Wucht von Schumanns Zweiter: Ein unvergleichlicher Konzertmitschnitt

Die neue Veröffentlichung von BR-Klassik bietet ein musikalisches Erlebnis von seltener Intensität und Raffinesse: eine Aufnahme von Robert Schumanns zweiter Sinfonie in C-Dur, Op. 61, und Leonard Bernsteins Divertimento für Orchester, dargeboten vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Bernstein selbst. Aufgenommen wurde dieses Konzert im Herkulessaal der Münchner Residenz im November 1983, einer Zeit, in der Bernstein in München ein fester Bestandteil des musikalischen Lebens war und das Bayerische Rundfunkorchester zu einem Ensemble formte, das seine künstlerischen Visionen mitreißend umzusetzen verstand. Bernsteins intensive Beziehung zu Schumanns zweiter Sinfonie, die zu seinen erklärten Lieblingswerken zählte, sowie die spielerische Hommage an die amerikanische Konzerttradition im Divertimento, machen diese Aufnahme zu einem Moment voller Emotionen und rhythmischer Brillanz.

Schumanns zweite Sinfonie, ein Werk voller Kontraste und Leidenschaft, entstand in einer Zeit intensiver persönlicher Krisen. Bereits von den ersten Takten an spürt man die Zerrissenheit des Komponisten, der unter gesundheitlichen und psychischen Belastungen litt. Die Sinfonie verkörpert eine Reise durch Schumanns Gefühlswelt – von der aufsteigenden Kraft des Anfangs bis zur beinahe manischen Energie des Scherzos und der triumphalen Erlösung im Finale. Es ist jene Vielschichtigkeit, die Bernstein zu einer seiner markantesten Interpretationen inspirierte, die in dieser Aufnahme wunderbar lebendig wird.

Der erste Satz wirkt wie ein heroischer Aufbruch. Bernstein entfaltet den langsamen, majestätischen Beginn mit großer Geduld und baut das musikalische Material zu einem wahrhaft epischen Allegro auf, das in seinen energischen Akzenten und klar herausgearbeiteten thematischen Bögen die unbändige Schaffenskraft des Komponisten spiegelt.

Im zweiten Satz, dem berüchtigten Scherzo, wird die Interpretation Bernsteins noch eindringlicher. Schumanns charakteristischer „Wahnsinn“ scheint hier besonders greifbar: Bernstein lässt die schnell bewegten Figuren und abrupten Dynamikwechsel mit einer unnachgiebigen, fast stürmischen Kraft hervortreten. Das Orchester zeichnet hier mit unerbittlicher Präzision ein Bild innerer Zerrissenheit und fieberhafter Unruhe, die Schumanns eigene Lebensrealität widerspiegelt.

Der langsame dritte Satz ist dagegen ein Moment der Innerlichkeit und fast meditativer Ruhe. Bernstein lotet das Adagio in seiner ganzen emotionalen Tiefe aus, das Orchester verleiht der wehmütigen Melodie eine warme, jedoch zerbrechliche Klangfarbe. Hier zeigt sich Bernsteins besondere Fähigkeit, lyrische Spannungen zu entfalten, die nie sentimental, sondern immer von erhabener Einfachheit durchzogen sind. Und doch wirkt gerade dieser Satz derart intensiv, dass der Zuhörer ganz eng mit Schumanns Leid verbunden wird.

Im vierten Satz bricht sich schließlich ein Gefühl der Erlösung Bahn. Bernstein führt das Orchester hier zu einem kraftvollen Höhepunkt, der durch präzise abgestimmte Phrasierungen und markante Akzente einen triumphalen Abschluss findet. Es ist, als ob Schumann seine Ängste und Zweifel hinter sich lässt und zu einem Ausdruck reiner Freude findet – eine Dynamik, die Bernstein mit ansteckender Energie und unverkennbarer Schärfe im Rhythmus aufgreift.

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks präsentiert sich unter Bernstein in bestechender Form. In dieser Aufnahme wird die langjährige musikalische Partnerschaft zwischen Dirigent und Orchester auf eindrucksvolle Weise greifbar. Bernstein, für den Schumanns Zweite eine besonders emotionale Bedeutung hatte, verschmilzt hier mit dem Orchester und formt eine Interpretation, die nicht nur klanglich, sondern auch dramaturgisch überzeugt. Die Musiker des Orchesters folgen Bernsteins nuanciertem Dirigat mit bewundernswerter Präzision und Flexibilität und verleihen dem Werk eine klangliche Transparenz, die jeden Satz als emotional in sich geschlossenen Ausdruck einer universellen menschlichen Erfahrung erscheinen lässt.

Bernsteins Divertimento, das 1980 zum 100-jährigen Bestehen des Boston Symphony Orchestra entstand, ist ein kontrastreiches und humorvolles Werk, das den Hörer mit einer Abfolge unterschiedlichster Stimmungen und Tanzrhythmen überrascht. Die acht kurzen Sätze, die sich in Form einer musikalischen Hommage an die amerikanische Musikkultur präsentieren, fangen mit einer Fanfare an und entfalten sich über eine faszinierende Reise durch die Welt des Walzers, Sambas, Blues und Marschs.

In dieser Münchner Aufnahme zeigt Bernstein die Leichtigkeit und Virtuosität, mit der er zwischen den Stilen wechseln und musikalische Bezüge herstellen konnte. Sein Orchester folgt ihm mit spielerischer Präzision und einem bemerkenswerten Gespür für die jazzigen Elemente, die das Werk durchziehen. Hier wird das Bayerische Rundfunkorchester zu einem „amerikanischen“ Klangkörper, der den Schmelztiegel verschiedenster musikalischer Einflüsse in perfekter Balance vereint. Bernstein lässt die Musik pulsieren und gibt dem Divertimento eine faszinierende rhythmische Energie, die sowohl den tänzerischen Charakter als auch den nostalgischen Grundton des Werkes betont.

Diese Aufnahme dokumentiert ein denkwürdiges Konzert zweier musikalischer Welten: Schumanns introspektive Sinfonie, die in ihrer emotionellen Wucht und dramatischen Intensität einzigartig ist, und Bernsteins Divertimento, das als humorvolle Hommage an seine eigene kulturelle Herkunft erklingt. Beide Werke leben hier nicht nur durch Bernsteins unnachahmliche Persönlichkeit und sein tiefes Verständnis für die Musik, sondern auch durch das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das unter seiner Leitung zu einer beglückenden Einheit mit ihm verschmilzt.

Dirk Schauß, im November 2024

Robert Schumann

Sinfonie Nr. 2 C-Dur, Op. 61

Leonard Bernstein

Divertimento for Orchestra

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

Leonard Bernstein, musikalische Leitung

BR-Klassik 900226